Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
du?«
»Ein bisschen rumgelaufen. Durch die Straßen.«
Als sie an der Haustür gestanden hatte, war ihr kurz der Gedanke durch den Kopf gegangen, Deborah zur Rede zu stellen. Sie einfach danach zu fragen, mit wem sie da telefoniert hatte. Mit wem sie über Mara gesprochen hatte. Wer Gefahr lief, von Mara wiedererkannt zu werden.
»Und? Geht es dir jetzt besser?«
Mara spürte Deborahs Worte wie Messerstiche. Das Getue nervte sie. Aggression keimte in ihr auf, aber sie musste sie im Zaum halten.
»Willst du nicht doch was essen?«
Mara schüttelte den Kopf und sah sich um. Sie war nun wieder in der Wohnung, in der sie die Nacht würde verbringen müssen.
»Ich gehe schlafen«, sagte sie. »Ich bin müde.«
»So früh? Also gut.« Sie sagte es, als könne Mara nicht tun und lassen, was sie wollte, sondern als müsse Deborah ihr erlauben, schlafen zu gehen. »Morgen reden wir weiter. Wir planen deine Zukunft. Du wirst sehen, es wird alles wieder gut. Ich habe schon einige Ideen. Deine Karriere geht weiter. Auch ohne diese Geige.«
21
Mara ging in ihr Zimmer und spürte Erleichterung, als sie die Tür hinter sich schließen konnte. Eigentlich wäre sie noch gerne ins Bad gegangen, hätte gerne eine Dusche genommen, aber ihr Widerwille dagegen, noch mal einen Fuß aus diesem Zimmer zu setzen, hielt sie davon ab.
Sie musste nachdenken. Und sie musste den Computer an den Strom anschließen. Weiter hinten im Zimmer, dort, wo ein Jugendlicher, der hier wohnte, wohl seinen Schreibtisch haben würde, gab es zwei Steckdosen.
Schließlich ließ sich Mara auf dem Bett nieder.
Hatte sie bei dem Telefonat vielleicht etwas falsch verstanden? War es ganz sicher, dass Deborah ein eigenes Spiel spielte? Oder tat sie ihr Unrecht?
Aber es war nicht nur das, was sie am Telefon gesagt hatte. Es war auch ihr seltsames Zögern, den Diebstahl der Geige richtig zu verfolgen.
Mara versank in einem Strudel aus Gedanken. Der Mann im Keller. Der Mann mit den eng zusammenstehenden Augen. Der Kellereingang war plötzlich ganz groß, wie der Zugang zu einer Höhle, und auf einmal bemerkte Mara, dass schon die ganze Zeit jemand auf sie einredete. Jemand, den sie nicht sehen konnte, der aber eine ähnliche Stimme besaß wie ihr sogenannter Vater. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie ihn ausgeblendet hatte.
»Ich bin Orpheus«, sagte er. »Ich muss hinab ins Höllenreich, um meine Eurydike zu holen. Sie ist nicht nur meine Geliebte, meine Frau, verstehst du? Sie ist meine Muse. Sie ist meine Kunst, meine Inspiration. Sie ist eigentlich die Musik selbst. Wenn ich sie nicht habe, werde ich zugrunde gehen.«
Jetzt hatte Mara sehr genau zugehört, hatte es verstanden, und ihr fiel ein, dass sie sich das auch gedacht hatte, als sie im Wald von der Orpheus-Sage las. Eurydike war nur ein Symbol. Für das, was ein Künstler unter größten Anstrengungen immer wieder aus den Tiefen seines eigenen Bewusstseins holen musste, um weitermachen zu können.
»Hilf mir«, vernahm sie nun die Stimme. »Ich muss dort hinunter, ich kann es nicht allein.«
Wer soll dir helfen, dachte Mara – oder sie sagte es, so sicher war sie sich da nicht.
»Du, Mara. Wer sonst? Oder siehst du hier noch jemanden?«
Sie schreckte auf und bemerkte erst jetzt, dass sie eingeschlafen war. Ihre Kleidung war verschwitzt.
Sie hatte Durst. Sie musste etwas trinken.
Sie schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und lauschte. Die Wohnung lag in tiefer Stille. Wahrscheinlich war Deborah auch schlafen gegangen.
Sie schlich über den Flur ins Bad, trank etwas Wasser aus dem Hahn und sah sich im Spiegel an. Ihr Gesicht war blass.
Auf dem Rückweg bemerkte sie Licht im Wohnzimmer. Sie ging ein Stück weiter den Flur entlang und warf einen Blick hinein. Deborah, noch immer in ihrem hellen Kostüm und den Pumps, stand draußen auf der Terrasse und telefonierte.
Mara konzentrierte sich. Und in diesem Moment sagte Deborah einen Satz, der Mara innerhalb von einer Sekunde eine Entscheidung treffen ließ: »Verwahren Sie die Geige. Sobald ich mit Mara fertig bin, kümmere ich mich darum.«
Kein Irrtum möglich.
Sie hatte sich nicht verhört.
Mara schlich in ihr Zimmer, packte so schnell wie möglich ihren Laptop in den Rucksack und ging zur Wohnungstür. Auf der Ablage lag etwas Großes, Weißes. Deborahs Handtasche.
Mara griff hinein und ertastete ein Mäppchen mit Kreditkarten und Bargeld. Sekunden später war sie auf dem Parkplatz und eilte zur Straße. Sie blickte
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