Die Päpstin
war müde und hungrig, und ihm ging die Geduld aus, sich mit dem schier endlosen Strom unbedeutender
Beschuldigungen, Gegenklagen und Beschwerden zu beschäftigen. Er wünschte, er wäre wieder auf Villaris, bei Johanna.
Johanna.
Wie sehr er sie vermißte. Ihre rauchige Stimme, ihr tiefes, melodisches Lachen, ihre faszinierenden graugrünen Augen, die
ihn mit so viel Wissen und so viel Liebe betrachteten. Aber er durfte nicht an sie denken. Deshalb hatte er sich ja einverstanden
erklärt, das Amt eines
missus
zu übernehmen – um räumliche Entfernung zwischen sich und Johanna zu schaffen und Zeit zu bekommen, die Kontrolle über die
Kraft der Gefühle wiederzuerlangen, die sich in seinem Innern gebildet hatten – eine Kraft, die zum Schluß unbeherrschbar
geworden war.
»Ruft den nächsten Fall auf, Frambert«, befahl Gerold und sperrte die abschweifenden, störenden Gedanken aus.
Frambert hob die Pergamentrolle und las, um das Gemurmel der Menge zu übertönen, mit lauter Stimme:
»Abo klagt seinen Nachbarn Hunald an, dieser habe ihm widerrechtlich und ohne angemessene Entschädigung sein Vieh weggenommen.«
|220| Gerold nickte wissend. Eine derartige Sachlage war ihm nur allzu geläufig. In diesen Zeiten, da die wenigsten Menschen des
Lesens und Schreibens kundig waren, gab es kaum einen Haus- und Grundbesitzer, der über sein Land und sein Vieh Buch führen
konnte. Und da es solche Unterlagen nicht gab, war allen Arten von Diebstahl und Betrug Tür und Tor geöffnet.
Hunald – ein großer Mann mit rotem, frischem Gesicht, der sich protzig in scharlachrotes Leinen gekleidet hatte – trat vor,
um Abos Anklage zurückzuweisen.
»Das Vieh gehört mir. – Bring die Reliquie her!« befahl er einem seiner Knechte und zeigte auf eine kleine Truhe. Dramatisch
stellte er sich damit in Pose und deklamierte: »Ich bin unschuldig! Das schwöre ich vor Gott und auf diese heiligen Knochen!«
»Knochen hin, Knochen her – es sind meine Kühe, Markgraf Gerold, und das weiß Hunald ganz genau«, widersprach Abo, ein kleiner
Mann in schlichter Kleidung, die in krassem Kontrast zu der seines Widersachers stand – wie auch sein ruhiges und sachliches
Auftreten. »Hunald mag schwören, was er will; an der Wahrheit wird es nichts ändern.«
»Du wagst es, Gottes Urteil in Frage zu stellen, Abo?« ereiferte sich Hunald. In seiner Stimme lag ein wohl abgewogenes Maß
an frommer Entrüstung, doch Gerold entging nicht der leise Beiklang von Triumph. »Ihr habt es gehört, edler Herr Graf! Das
ist Gotteslästerung!«
»Habt Ihr irgendeinen Beweis, daß das Vieh Euch gehört?« fragte Gerold, an Abo gewandt.
Diese Frage war höchst ungewöhnlich; im Frankenreich gab es kein Gesetz, bei dem man sich auf Zeugen oder Beweise stützen
konnte. Hunald starrte Gerold düster an. Was hatte dieser fremde friesische Markgraf eigentlich im Sinn?
»Beweis?« Die Frage war so unerwartet gekommen, daß Abo für einen Moment nachdenken mußte. »Tja, nun … Bertha – das ist mein
Weib, müßt Ihr wissen … kann jedes der Tiere beim Namen nennen. Und meine vier Kinder können’s auch; sie kennen die Kühe ihr
Leben lang. Sie können sogar sagen, welche Tiere zornig werden, wenn sie gemolken werden, und welche lieber Klee statt Gras
fressen.« Er hielt kurz inne; dann fiel ihm noch etwas ein. »Bringt mich zu den Tieren; dann werde ich sie rufen. Sie kommen
sofort herbei, Ihr werdet |221| schon sehen; denn sie kennen den Klang meiner Stimme und die Berührung meiner Hand.« In Abos Augen leuchtete ein winziger
Funke Hoffnung.
»Unsinn!« polterte Hunald. »Soll dieses Gericht das gedankenlose, unbedachte Tun stumpfsinniger Viecher vor den Augen des
Allmächtigen und den heiligen Gesetzen des Himmels als Beweis gelten lassen? Ich verlange ein gerechtes Urteil durch den Eid
vor dem Allmächtigen. – Bring mir die Truhe mit den heiligen Gebeinen, auf daß ich schwören kann! Möge Gott mich auf der Stelle
erschlagen, wenn ich lüge!«
Gerold strich sich über den Bart und dachte nach. Hunald war der Beklagte; ihm stand das Recht zu, den Eid zu fordern. Gott
würde ihm nicht gestatten, mit einer heiligen Reliquie in den Händen einen falschen Schwur abzulegen. Jedenfalls besagte es
so das Gesetz.
Der Kaiser maß solchen Schwüren großen Wert bei; Gerold aber hatte da seine Zweifel. Ganz bestimmt gab es Menschen, denen
die handfesten Reichtümer dieser Welt wichtiger waren als die
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