Die Päpstin
Abschluß der Prozession.
Sie schoben einen Karren vor sich her, der hoch mit Erde vom Friedhof beladen war.
»Hiermit untersage ich euch, irgendeine Kirche zu betreten, einen Laden, eine Mühle, einen Marktplatz oder sonst einen Ort,
an dem Menschen sich versammeln«, wandte Abt Rabanus sich mit feierlichem Ernst an die Aussätzigen. »Ich untersage euch, die
üblichen Straßen und Wege zu benutzen und euch einem Menschen zu nähern, ohne eure Glocke zu läuten und ihn auf diese Weise
zu warnen. Ich untersage euch, Kinder zu berühren oder ihnen irgend etwas zu geben.«
|270| Eine der Frauen brach in Tränen aus. Auf der Vorderseite ihrer abgetragenen wollenen Tunika waren in Höhe ihrer Brüste zwei
dunkle Flecke zu sehen.
Eine Mutter, die noch stillt
, dachte Johanna bei sich.
Wo mag ihr Kind sein? Wer wird sich um das Kleine kümmern?
»Ich untersage euch, in Gesellschaft anderer Menschen zu essen und zu trinken! Dies ist euch fortan nur unter Aussätzigen
erlaubt, wie ihr es seid«, fuhr Abt Rabanus fort. »Des weiteren untersage ich euch, daß ihr euch jemals wieder das Gesicht,
die Hände, die Füße und jeden Gegenstand, den ihr benutzt, in einem Fluß, einem Bach, einer Quelle oder einem Brunnen wascht.
Ich untersage euch jede fleischliche Beziehung zu anderen Menschen, auch zu euren Gatten. Ich untersage euch, Kinder zu zeugen
oder sie zu stillen.«
Das schmerzerfüllte Weinen der Frau wurde lauter, und die Tränen strömten über ihr von Geschwüren entstelltes Gesicht.
»Wie heißt du?« Mit kaum verhülltem Zorn wandte Abt Rabanus sich an die schluchzende Frau. Ihre unziemliche Zurschaustellung
von Gefühlen störte den wohlgeordneten Ablauf der Zeremonie, mit der Rabanus den Bischof hatte beeindrucken wollen. Denn inzwischen
war offensichtlich, daß Otgar nicht nur deshalb nach Fulda gekommen war, um die Botschaft zu überbringen, daß Gottschalk das
Kloster verlassen dürfe: Der Bischof hatte außerdem den Auftrag, die Amtsführung Rabanus’ zu beobachten und darüber zu berichten.
»Madalgis«, gab die Frau schluchzend zur Antwort. »Bitte, Herr, laß mich nach Hause; denn vier vaterlose Kleine warten auf
ihr Abendbrot.«
»Der Himmel wird für die Unschuldigen sorgen. Du hast gesündigt, Madalgis, und deshalb hat Gott dich mit der Krankheit geschlagen«,
erklärte Rabanus mit übertriebener Geduld, so, als würde er zu einem Kind reden. »Du solltest nicht weinen. Statt dessen solltest
du Gott danken; denn im nächsten Leben brauchst du weniger Leid zu ertragen als in diesem.«
Madalgis starrte Rabanus fassungslos an, als könnte sie nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Dann brach sie wieder
in Tränen aus und weinte lauter als zuvor; ihr Gesicht lief vom Hals bis zu den Haarwurzeln blutrot an.
Das ist ja seltsam,
dachte Johanna.
Rabanus kehrte der Frau den Rücken zu.»
De profundis moribus…«,
begann er sein Gebet für die Toten. Die anderen Mönche |271| fielen ein; ihre Stimmen vermischten sich zu einem tiefen, volltönenden und harmonischen Klang.
Johannas Lippen bildeten die Worte des Gebets mechanisch; ihre Augen ruhten voller gespannter Aufmerksamkeit auf Madalgis.
Als Rabanus Maurus das Gebet beendete, ging er zum letzten Teil der Zeremonie über, bei der die Aussätzigen, einer nach dem
anderen, formell von der Welt der Lebenden abgesondert wurden. Rabanus stellte sich vor den ersten Kranken, den vierzehnjährigen,
noch kaum vom Aussatz gezeichneten Jungen. »
Sis mortuus mundo, vivens iterum Deo«,
sagte der Abt. »Magst du auch tot sein vor den Augen der Welt, so lebst du doch vor den Augen des Herrn.« Er gab Bruder Magenard
ein Zeichen, worauf dieser einen kleinen Spaten in die Friedhofserde auf dem Schubkarren stach; dann schleuderte er die Erde
auf den Jungen, die sich in seinem Haar und seiner Kleidung festsetzte.
Diese Zeremonie wurde fünfmal wiederholt und endete stets damit, daß Bruder Magenard die Friedhofserde auf den jeweiligen
Kranken schleuderte. Als Madalgis an die Reihe kam, versuchte sie, fortzulaufen, doch die beiden Laienbrüder versperrten ihr
den Weg. Rabanus blickte Madalgis finster an.
»Sis mortuus mundo, vivens iterum …«
»Halt!« rief Johanna.
Abt Rabanus verstummte, und sämtliche Brüder blickten fassungslos in die Runde, um die Quelle dieser beispiellosen Störung
ausfindig zu machen.
Dann ruhten aller Augen auf Johanna, als sie plötzlich zu Madalgis ging und sie rasch und
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