Die Päpstin
fachkundig untersuchte. Schließlich
wandte sie sich Abt Rabanus zu. »Diese Frau ist keine Aussätzige, ehrenwerter Abt.«
»Was sagst du da?« Rabanus mühte sich, seinen Zorn im Zaum zu halten, damit der Bischof nichts bemerkte.
»Die krankhaften Veränderungen sind nicht auf Aussatz zurückzuführen. Seht Ihr, wie ihre Haut sich rötet, weil sie vom Blut
darunter gespeist wird? Diese Hauterkrankung ist nicht ansteckend und kann geheilt werden.«
»Wenn diese Frau keine Leprakranke ist, was hat ihre Geschwüre dann verursacht?« fragte Rabanus streng.
»Es kommen verschiedene Ursachen in Frage«, erwiderte Johanna. »Ohne genauere Untersuchung läßt es sich schwer |272| sagen. Doch was auch der Grund sein mag, eins steht fest: Es ist keine Lepra.«
»Gott hat diese Frau mit den sichtbaren Malen der Sünde gezeichnet!« sagte Rabanus. »Wir dürfen uns dem Willen des Allmächtigen
nicht widersetzen!«
»Sie ist gezeichnet, aber nicht vom Aussatz«, antwortete Johanna unbeirrt. »Gott hat uns das Wissen und die Fähigkeit verliehen,
jene zu erkennen, die er auserwählt hat, die Last dieser Krankheit zu tragen. Würde es Gott gefallen, wenn wir den Todgeweihten
einen Menschen zuweisen, den der Allmächtige selbst gar nicht dazu erwählt hat?«
Es war ein scharfsinniges Argument. Voller Zorn erkannte Rabanus, daß die anderen Mönche davon beeindruckt waren. »Und woher
sollen wir wissen, daß du die Zeichen des göttlichen Willens richtig gedeutet hast?« konterte er. »Ist dein Stolz so groß,
daß du deine Mitbrüder dafür opfern würdest? Denn falls du dich dieser Frau annehmen willst, muß sie ins Spital – und das
wiederum würde bedeuten, daß du uns alle in Gefahr bringst!«
Die Worte des Abtes verursachten besorgtes Gemurmel unter den versammelten Mönchen. Von der ewigen Verdammnis und den unsäglichen
Qualen der Hölle abgesehen, rief nichts so viel Abscheu, Furcht und Entsetzen hervor wie die Lepra.
Laut jammernd warf Madalgis sich Johanna zu Füßen. Sie hatte der Diskussion gelauscht, ohne ein Wort zu verstehen; denn Johanna
und der Abt hatten Latein gesprochen. Doch Madalgis hatte bemerkt, daß Johanna sich für sie eingesetzt hatte – und daß die
Waagschale sich wieder zu ihren Ungunsten neigte.
Johanna klopfte der Frau sanft auf die Schulter, um sie zu beruhigen und ihr Trost zu spenden. »Kein Bruder wird ein Wagnis
eingehen müssen, ehrwürdiger Abt«, sagte sie zu Rabanus. »Nur ich allein. Mit Eurer Erlaubnis, Vater, begleite ich diese Frau
nach Hause, stelle fest, woran sie erkrankt ist, und bringe ihr jene Arzneien, die zu ihrer Heilung erforderlich sind.«
»Du allein? Mit einer Frau?« In frömmlerischem Entsetzen hob Rabanus die Brauen. »Deine Absichten mögen lauter sein, Johannes
Anglicus; aber du bist ein junger Mann und den Gefahren der fleischlichen Begierde ausgesetzt. Als dein geistlicher Vater
gehört es zu meinen Pflichten, dich vor allen niederen Instinkten zu schützen.«
|273| Johanna setzte zu einer heftigen Erwiderung an, schwieg dann aber voller hilflosen Zorns und Enttäuschung. Niemand war besser
gegen die Verlockungen durch eine Frau geschützt als sie; aber sie hatte selbstverständlich keine Möglichkeit, sich Rabanus
Maurus zu offenbaren, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen und alles zunichte zu machen.
Hinter Johanna erklang Bruder Benjamins kratzige Stimme. »Ich könnte Bruder Johannes begleiten, ehrenwerter Abt.« Benjamin
lächelte matt. »Ich bin zu alt, als daß die fleischliche Versuchung noch eine Gefahr für mich wäre. Und Ihr dürft Bruder Johannes
ruhig vertrauen, Vater, wenn er behauptet, daß diese Frau keine Aussätzige ist. Wenn Johannes mit solcher Überzeugung spricht,
irrt er sich niemals. Seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Heilkunst sind gewaltig.«
Johanna bedachte Benjamin mit einem dankbaren Blick. Madalgis klammerte sich an sie; ihr lautes Weinen hatte sich dank der
tröstlichen Berührung durch Johanna in ein leises Schluchzen verwandelt.
Abt Rabanus zögerte. Am liebsten hätte er Johannes Anglicus zur Strafe für dessen dreisten Ungehorsam eine kräftige Tracht
Prügel verabreichen lassen. Doch Bischof Otgar schaute zu, und Rabanus konnte es sich nicht erlauben, hartherzig und unnachgiebig
zu erscheinen. »Also gut«, sagte er mürrisch. »Nach den Vespern darfst du, Bruder Benjamin, zusammen mit Bruder Johannes und
dieser Sünderin das Kloster verlassen und tun, was im
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