Die Päpstin
Sergius.
|455| Johanna betrauerte diesen Verlust tief. Sie und Arighis hatten zwar so manchen Streit ausgefochten, besonders zu Anfang, doch
sie hatten einander zu respektieren gelernt. Sie würde Arighis’ ruhige, besonnene Art vermissen, sein beinahe unerschöpfliches
Wissen über jedes noch so kleine Rädchen der gewaltigen, komplizierten Maschinerie des Patriarchums, ja, sogar den unnahbaren,
hochmütigen Stolz, mit dem er die Pflichten erfüllt hatte, die sein Amt ihm auferlegte. Es war nur recht und billig, daß er
nun für alle Ewigkeit in Ehren neben jenen beiden Päpsten ruhte, denen er so treu gedient hatte.
Nachdem die Trauertage vorüber waren, wandte man sich der schrecklichen Aufgabe zu, die genauen Schäden der Brandkatastrophe
zu ermitteln. Die Leoninische Mauer, an der das Feuer offenbar begonnen hatte, war nur leicht beschädigt worden, doch etwa
drei Viertel Borgos waren völlig von den Flammen zerstört worden. Von den ausländischen Gemeinden und ihren Kirchen waren
kaum mehr als geschwärzte Trümmer geblieben.
Daß die Peterskirche das Inferno überstanden hatte, war wirklich ein reines Wunder – und genau so wurde es binnen kurzer Zeit
auch allgemein betrachtet. Papst Leo habe das Feuer gebannt, erzählten sich die Leute, indem er im Angesicht der herannahenden
Flammenmauer das Kreuzzeichen gemacht hatte. Diese Version der Ereignisse wurde von den Römern begeistert aufgenommen; denn
sie brauchten dringend ein Zeichen dafür, daß Gott sich nicht gegen sie gewandt hatte.
Und nun wurden ihre Hoffnungen erfüllt: Sie entdeckten dieses Zeichen des göttlichen Wohlwollens in dem Wunder, das Leo gewirkt
hatte – was jeder, der dabeigewesen war, bereitwilligst bestätigte. Ja, die Zahl der Augenzeugen stieg von Tag zu Tag, bis
es den Anschein hatte, als wäre ganz Rom an jenem schicksalhaften Morgen vor dem Petersdom versammelt gewesen.
Alle Kritik an Leo war auf einen Schlag vergessen. Papst Leo war ein Held, ein Prophet, ein Heiliger, eine lebendige Verkörperung
des Geistes von Sankt Peter. Die Menschen bejubelten ihn; denn ein Papst, der ein solches Wunder zu wirken vermochte, konnte
die Stadt auch vor den sarazenischen Ungläubigen schützen.
Doch der Papst wurde nicht überall bejubelt. Als die Nachricht |456| von seinem Wunder zur Kirche Sankt Marcellus gelangte, wurden die Türen sofort geschlossen und verriegelt. Sämtliche Taufen
wurden verschoben; alle Termine abrupt abgesagt. Wer nachfragte, erhielt die Auskunft, daß niemand zu Kardinal Anastasius
vorgelassen werden könne, weil Seine Eminenz plötzlich leicht erkrankt sei.
Johanna arbeitete Tag und Nacht. Sie verteilte Kleidung, Nahrungsmittel, Arzneimittel und anderes an die Hospize und Wohltätigkeitseinrichtungen
der Stadt. Die Hospitäler waren überfüllt mit den Opfern der Feuersbrunst, und es gab zu wenige Ärzte, als daß sie sich um
alle Verletzten hätten kümmern können; deshalb half Johanna aus, wann immer sie Zeit erübrigen konnte. Einige Menschen hatten
so schwere Brandwunden davongetragen, daß ihnen nicht mehr zu helfen war; man konnte kaum mehr für sie tun, als ihnen ein
Schmerzmittel aus Mohn, Alraune und Bilsenkraut zu verabreichen, um ihre Todesqualen zu lindern. Andere hatten entstellende
Verbrennungen erlitten, die sich zu entzünden drohten; diesen Patienten legte Johanna Umschläge mit Honig und Aloe auf, ein
altbewährtes Mittel gegen Brandwunden. Wieder andere, deren Körper weitgehend von den Flammen verschont geblieben waren, hatten
zuviel Rauch in die Lungen bekommen und kämpften mit jedem qualvollen, flachen Atemzug verzweifelt ums Überleben.
Erschöpft und erschüttert angesichts von soviel Leid, Schrecken und Tod, wurde Johanna erneut von einer Glaubenskrise befallen.
Wie konnte ein guter und wohlmeinender Gott so etwas geschehen lassen? Wie konnte er zulassen, daß seinen Geschöpfen so schreckliche
Wunden zugefügt wurden, selbst unschuldigen Kindern und Säuglingen, die noch keine Sünde auf sich geladen haben konnten?
Das Herz wurde Johanna schwer, als die Schatten ihrer alten Zweifel wieder über sie fielen.
Eines Morgens traf sie sich mit Leo, um über die päpstlichen Vorrats- und Lagerhäuser zu reden, die den Opfern der Brandkatastrophe
geöffnet werden sollten, als Waldipert, der neue
vicedominus,
unerwartet ins Zimmer kam. Er war ein großer, knochiger Mann, dessen blasse Haut und das blonde Haar seine lombardische
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