Die Partie. Thriller (German Edition)
keinen Sinn. Außerdem gibt es die Stadtmauer schon seit über zweihundert Jahren nicht mehr.«
»Falsch!« Carlo schlägt mit der Hand auf den Tisch. »Es gibt noch ein kleines Stück, in den Lauerschen Gärten in M 6, direkt neben dem Kurpfalz-Gymnasium. Erschreckend, dass du das nicht weißt, Eva!«
»Oh.« Ihre Augenlider flackern verlegen. »Aber wie soll man von dort aus dieses Gemälde sehen können?«
Carlo zuckt mit den Achseln und greift zur Weinflasche.
»Wir werden es herausfinden«, sagt Kimski.
»Jetzt gleich?«, fragt Eva.
»Wann sonst. Los.«
Eva faltet den Zettel zusammen und steckt ihn in ihre Handtasche. Dann erhebt sie sich.
»Sehr schön!« Carlo prostet ihnen mit der Flasche zu. »Aber vergesst nicht, mich über eure Entdeckungen zu informieren. Diese Geschichte hat meine Neugier geweckt. Salut!«
Er setzt die Flasche an und gießt sich den Wein in den Rachen. Kimski und Eva gehen zur Tür. Als Kimski sich noch einmal umdreht, sieht er, dass Carlo im Sessel zusammengesunken ist, die Rotweinflasche zwischen den Beinen. Er ist eingeschlafen.
Kimski hält Eva die Tür auf. Sie treten in den dunklen Flur und hinaus in tiefe Nacht.
19
Dienstag, 00.32 Uhr
Die einsame Krähe kreist über der illuminierten Stadt. Die Stadt ist noch immer ihre Heimat, und doch gibt es hier immer weniger Vögel ihrer Art. Dort, wo einst die Krähen regierten, herrschen heute die Tauben. Bald wird es hier überhaupt keine Krähen mehr geben, aber so weit ist es noch nicht.
Die Krähe interessieren solche Gedanken wenig. Sie ist schlau, das stimmt, aber was nach ihr sein wird, ist ihr egal. Was zählt, ist der eigene Vorteil. Auch was vor ihr war, ist ihr nicht wichtig. Als sie zum Sturzflug ansetzt, auf der Suche nach Beute, denkt sie nicht daran, dass in den Straßen unter ihr vor ferner Zeit einmal Adelige und Herrscher spazierten, Kaiser gastierten und Philosophen philosophierten. Dass dort einst Flüchtlinge eine neue Heimat fanden, Fremde aus Belgien, aus Holland und aus Frankreich. Dass Armeen die Stadt verheerten und ihre Wälle bombardierten.
Das alles ist jetzt nicht wichtig, obgleich es wohl die beste Zeit für Krähen in der Stadt war. Es zählt nur die Gegenwart.
Die Krähe geht noch tiefer, dort wo einst die Mauern der Stadt standen, und hält Ausschau. An einer Hausecke erspäht sie eine überquellende Mülltonne. Die Aussicht auf Reste von menschlicher Nahrung macht sie froh. Sie entleert ihren Darm von den letzten Notreserven und setzt zum finalen Sturzflug an.
»Mist!« Kimski sieht auf seine rechte Schulter. Ein Vogel hat ihm auf seinen Anzug geschissen. Dabei ist das Jackett ohnehin vom Schweiß des Tages in Mitleidenschaft gezogen. Er zieht sein Taschentuch hervor und wischt die Schmiere von dem Leinenstoff.
»Dort hinten ist es.«
Sie schreiten die Treppenstufen herunter und treten in den Park. Zu ihrer Rechten entdecken sie die wenige Meter langen Mauerreste, die wie die gesamte Grünanlage um einiges tiefer liegen als die moderne Stadt. Hinter der Mauer ist der Boden auf das Niveau der anderen Straßen angehoben und auf der Erde ein Spielplatz errichtet worden.
Sie laufen über die grüne Wiese, direkt auf das Gemäuer zu. Man kann noch genau die Löcher sehen, die früher einmal als Schießscharten gedient haben.
»Und jetzt?«, fragt Eva.
»Jetzt klettern wir da rauf.«
Kimski steckt bereits mit einem Bein in einer der Scharten, als Eva laut vorliest: »Dies ist kein Spielplatz! Betreten der historischen Mauer streng verboten!«
»Kommen Sie schon!«
Kimski erreicht die Oberfläche der Mauer und zieht sich mit beiden Armen hoch. Dann dreht er sich um und streckt Eva die Hand hin. Sie flucht zweimal, während sie sich mit ihren Schuhen in die Mauerritzen zwängt und dreimal abrutscht, bis sie schließlich seine Hand zu fassen bekommt. Er zieht sie hoch. Wieder schimpft sie, als sie merkt, dass sie sich das Knie aufgeschürft hat.
»Sehen Sie was?«, fragte Kimski.
»Was soll ich sehen? Hier gibt es überhaupt nichts, nur Bäume!«
Dreimal dreht Kimski sich im Kreis, um die Lage zu studieren. Auf der Innenseite des Parks ist die angrenzende Fassade des Kurpfalz-Gymnasiums zu sehen. Sonst nichts. Er wendet sich um.
Außerhalb des Parks drängt sich dicht an dicht ein Baum an den nächsten. Der Park ist von einem Schutzwall aus Bäumen umgeben. Hinter dem Grünzeug ist fast nichts zu sehen. Nur an ein paar lichten Stellen kann man auf die vorbeiführenden Straßen
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