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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Muehl
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nicht beeinträchtigen. Die moderne Autonomievorstellung ist die der Erwachsenenautonomie, die keine Belastung durch Kinder vorsieht. Im Grunde soll unser Leben mit Kindern bleiben, wie es ohne Kinder war – nur schöner werden.
    Früher unterschieden sich die Lebensläufe voneinander wie heute, aber sie folgten einer gewissen Ordnung, die unumstößlich schien. Das hatte einen praktischen Nebeneffekt: Orientierung. Man war in einer Struktur aufgehoben und wusste ungefähr, was zu tun war, was einen Ausbruch nicht automatisch unmöglich machte. Seit unser Zeitgefühl durcheinandergeraten ist, hat diese Ordnung ihre Gültigkeit verloren.
    Kinder erinnern uns auf brutale Weise an das Unausweichliche: Sie konfrontieren uns mit unserer Sterblichkeit und verschärfen unser Existenzgefühl. In ihnen steht uns die biologische Wahrheit direkt vor Augen. Sie sind die nächste Generation. Die schreit uns ins Gesicht, dass wir alt sind, faltig, peinlich. Sie lacht uns aus, sobald wir uns in ihre Jugendsprache verirren. Sie sagt Sätze wie: »Mama, du hast ja eine Treppe im Bauch.« Sie verteidigt das Jungsein, sie will es ganz für sich allein auskosten und nicht mit Erwachsenen teilen. Die Zukunft unserer Kinder besäßen wir selbst gern, auch wenn wir uns das nicht eingestehen.

3. Lebenslüge
    Neulich rannte die elfjährige Tochter der Nachbarin mit einem Bild durchs Treppenhaus, das sie in der Schule gemalt hatte. Das Thema hieß: meine Familie. Sie hielt jeden fest, der vorbeikam, und zeigte es ihm. »Die in der Mitte sind meine Mama und mein Papa«, sagte sie. »Und das da sind Klaus, mein zweiter Papa, und Eva, meine zweite Mama. Der Hund gehört Eva.« Das Mädchen hatte auch drei Kinder gezeichnet. »Meine richtige Schwester und meine neuen Geschwister. Die besuchen uns jetzt jedes zweite Wochenende.« Bunte Pfeile wiesen auf die leiblichen Großeltern und auf die neu hinzugekommenen. Andere auf Tanten und Onkels, von denen es jetzt einige mehr gab als noch vergangenes Jahr. Eine Figur stand abseits. »Das ist der Ex meiner Mama«, sagte sie. »Er ruft mich manchmal an.« Sie lachte.
    »Patchworkfamilien sind die Großfamilien der Moderne. Viele Bezugspersonen sind besser als wenige. Das sagen auch Psychologen. Zu Weihnachten bekommen die Kinder mehr Geschenke, außerdem haben sie jetzt zwei Kinderzimmer, eins bei Mama, eins beim Papa. Wir verstehen uns weiterhin gut. Für die Kinder ist die Scheidung das Beste. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wenn ich glücklich bin, ist auch mein Kind glücklich. Ich bin immer für dich da. Die quality time zählt.«
    So lauten einige Lieblingswendungen von Patchworkern, die oft reflexhaft fallen. Sie führen uns vor Augen, wie erfinderisch wir geworden sind, wenn es darum geht, unser Gewissen zu beruhigen und über die Realität einen Schleier der Scheinheiligkeit zu breiten. Für ein gutes Gefühl braucht es nur die passende Formulierung, und wir stehen wieder auf der moralisch richtigen Seite. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Wir deuten die Wahrheit in ihren kritischen Dimensionen anhand plausibel klingender Erklärungsmuster und Euphemismen solange um, bis wir selbst glauben, was wir ständig betonen. Wir sagen die Wahrheit – und lügen trotzdem.
    Die Gewinn- und Verlustrechnung, die wir bei jeder anderen Gelegenheit aufstellen, zählt nicht, wenn die Familie zerbricht. Die Verluste wischen wir beiseite. Solange niemand das Scheitern als Scheitern benennt, gibt es kein Scheitern. Wir nennen es Win-win -Situation.
    Die vielfältigen sprachlichen Ablenkungsmanöver haben uns Politik und Wirtschaft gelehrt. Sie haben die Strategie, Negatives positiv zu konnotieren, perfektioniert. Von »freisetzen« reden Unternehmenssprecher, wenn die Firma Mitarbeiter rausschmeißt. Dieses Wort suggeriert viele schöne Perspektiven, die neugewonnene Freiheit ermöglicht es, Talente zu entdecken, Träume zu verwirklichen. Vielleicht wollte man ja insgeheim schon immer Pferde züchten, auswandern, eine Bar eröffnen und traute sich nur nicht. Dafür hat man jetzt genügend Zeit. An Arbeitslosigkeit, sozialen Abstieg, Geldsorgen, eine kleinere Wohnung, an Hartz IV, daran soll niemand zuerst denken.
    Auch Beitragsanpassung fällt in die Kategorie der Schönfärberei, genauso wie suboptimal, Outscourcing, abwickeln, Kollateralschaden, Familie im Wandel, Seniorenresidenz, bildungsferne Schichten, Nullwachstum oder vollschlank. Und ständig kommen neue hinzu.
    Der

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