Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
ja?«
»Bruder?«, stieß Saliman hervor und starrte Hem an, der den Blick unverwandt erwiderte.
»Ja, mein Bruder«, bestätigte Maerad. Ihn so zu nennen, vermittelte ihr immer noch ein Gefühl der Unwirklichkeit.
Nelac schüttelte verblüfft den Kopf. »Pellinor! Obwohl, wenn ich dich näher betrachte, kann ich erahnen, wer deine Mutter war, Maerad. Gewiss Milana vom Obersten Zirkel, nicht wahr? Ihr ähnelt einander wie ein Ei dem anderen. Dorn kannte ich zwar nicht so gut, aber Cai gerät unverkennbar nach ihm. Ihr habt beide die Augen eures Vaters.«
Hem rutschte hin und her, entweder vor Unbehagen oder Freude, Maerad vermochte es nicht zu sagen. »Mein Name ist Hem«, meldete er sich unverhofft zu Wort und schluckte beunruhigt, als fürchtete er, dafür gescholten zu werden.
Nelac zog eine Augenbraue hoch, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen schaute er zu Cadvan, der ins Feuer starrte und nicht zuzuhören schien. Maerad folgte seinem Blick und bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Sie hatte Cadvan noch nie so gesehen. Selbst als in der Herberge seine Wunden genäht wurden und sie ihn in seinen Qualen an der Grenze seiner Belastbarkeit gewähnt hatte, hatte er nicht so gespenstisch, so aschfahl gewirkt. Er sah aus wie ein lebender Toter. Nelac schien ihre Sorge zu teilen. Er ging zu Cadvan hinüber und kniete sich vor ihn. Mühsam wandte Cadvan sich ihm zu.
»Was ist dir widerfahren, mein Freund?«, fragte Nelac behutsam. Er legte Cadvan die Hand unters Kinn und sah ihm unmittelbar in die Augen. Für Maerad schien Cadvan plötzlich zehn Jahre alt zu sein, ein Kind, das Schmerzen litt und stumm um Hilfe flehte. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte sie keine Ahnung vom Ausmaß Cadvans Leiden gehabt. Zwar hatte er die vergangenen vier Tage verkniffener als sonst gewirkt, aber sie hatte es den Peitschenhieben und seiner Erschöpfung zugeschrieben. Was sie nun wahrnahm, war sein verwundeter Geist, der bei der Schlacht in den Höhenzügen gebrochen worden war. Mit einemjähen Anflug von Sorge begriff sie, dass er seither fortwährend Qualen gelitten hatte, von denen sie nichts geahnt hatte.
»Es war ein Grabunhold«, krächzte Cadvan heiser. »Ein Unhold aus dem Abgrund, Nelac. Er hat mich niedergestreckt. Ich konnte nichts dagegen tun.«
Maerad hörte, wie Saliman scharf den Atem einsog. »Ein Unhold!« Verwundert starrte er zu Maerad und Hem. »Wie kommt es dann, dass ihr noch lebt?« Cadvan vollführte eine ungewisse Geste mit der Hand. »Maerad …«, stammelte er. Nelac, der zutiefst besorgt aussah, schaute hastig auf. »Keine Zeit für Fragen«, sagte er. »Die können später beantwortet werden.« Nelac legte Cadvan die Hand auf die Stirn. Staunend beobachtete Maerad, wie sich ein silbriger Schimmer um ihn ausbreitete und an Intensität zunahm. Nelac schloss die Augen. Nach kurzer Zeit schimmerte seine Hand heller als alles andere im Raum, und der Barde selbst schien eine Gestalt aus purem Glanz zu sein, ein Wesen aus Luft und Licht statt aus Fleisch und Blut. Aus weiter Ferne oder tief in ihrem Geist hörte Maerad überirdisch anmutende Musik; es klang wie Glocken reiner Stimmen, doch eigentlich ähnelte es nichts, was sie je zuvor vernommen hatte. Cadvans Lider blinzelten und schlossen sich, dann senkte sich tiefe Zufriedenheit über seine Züge. Hem saß mit offenem Mund neben Maerad. Sein Glas hielt er vergessen in der Hand. Wie gebannt beobachteten sie das Geschehen eine ungewisse Zeit lang, dann atmete Nelac aus und entfernte die Hand von Cadvans Stirn. Die Musik wurde leiser, verhallte und verstummte.
Seufzend öffnete Cadvan die Augen, ließ sich in den Sessel zurücksinken und blickte zur Decke. Nelac erhob sich langsam, und Maerad fiel zum ersten Mal richtig auf, dass er ein alter Mann war, wenngleich sie nicht zu schätzen vermochte wie alt. Mit einem Mal wirkte er unsagbar erschöpft. Er schenkte sich etwas Laradhel ein und setzte sich wortlos.
»Was war das?« Hems Stimme hörte sich vor Verblüffung und Schreck schrill an, und Maerad zuckte zusammen. »Was hat er gemacht?«
Nelac schaute zu Hem auf, wobei er trotz seiner augenscheinlichen Erschöpfung belustigt wirkte, doch es war Saliman, der antwortete.
»Junger Hem, du hast soeben den größten Heiler in Annar und den Sieben Königreichen bei der Anwendung all seiner Kräfte gesehen. Merk auf! Es ist ein seltener Anblick. Und etwas, wonach ein junger Barde streben kann. Ein alter Barde auch«, fügte er hinzu und hob das Glas in
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