Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
um sie einzureißen, und er wollte, dass sie sich mit nutzlosen Anstürmen darauf verausgabten. Er hoffte, sie würden sich die ganze Nacht dagegen werfen. Doch dann gaben sie es auf, und er hörte, wie ein Werwesen - der Anführer, wie er vermutete - zu heulen begann. Allerdings war es diesmal ein anderes Geheul, ein dünner, fast menschlicher Klagelaut, in dem Worte mitschwangen. Es begann leise, wurde mit der Zeit jedoch lauter und eindringlicher.
»Der Anführer der Werwesen arbeitet an einem Gegenzauber«, erklärte Cadvan. »Wir haben Pech. Es ist selten, dass ein Werwesen etwas von Hexerei versteht.« Maerad sah ihm in die Augen; neue Furcht durchströmte sie. »Was bedeutet das?« »Entweder ist mein Bann gut oder nicht. Wir können nur abwarten, ob er standhält.« Cadvan ergriff das Schwert und harrte gespannt aus. Maerad spürte die Macht, die sich draußen aufbaute. Sie sammelte sich an der schwächsten Stelle der Schranke, der Verbindung; wie eine bösartige schwarze Klinge versuchte sie, sich in Cadvans Geist zu zwängen. Mit verbissenem Kiefer stemmte er sich dagegen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und Maerad beobachtete ihn mit wachsender Sorge. Die Stimme schwoll zu einem Crescendo an, zu einem unerträglich durchdringenden Laut, dann folgte unvermittelt eine geräuschlose Explosion, ein Aufblitzen schwarzen Lichts, und Cadvan taumelte mit schmerzverzerrter Miene gegen die Mauer zurück. Aber die Schranke hielt stand. Die Werwesen konnten nicht herein.
Dann folgte etwas, das Maerad noch mehr missfiel: Stille. Die Werwesen formierten sich neu.
Cadvan legte das Schwert beiseite und kramte in seinem Bündel. »Trink etwas«, schlug er vor. Er reichte ihr die Flasche mit dem Kräutergebräu. »Wir müssen jetzt wachsam sein.«
»Wonach müssen wir denn Ausschau halten?«
»Nach allem. Wirklich allem. Setz dich mit dem Rücken zum Feuer hin. Und vergiss nicht, dass dieser Turm kein Dach besitzt. Der einzige Weg, den sie noch haben, um hereinzugelangen, ist von oben. Das Feuer wird sie abschrecken, aber wohl nicht genug.«
Maerad umklammerte den Dolch fester, rückte neben Cadvan und lauschte angestrengt. Sie hörte nur das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Furcht breitete sich in ihrem Herzen aus, bis sie beinahe wünschte, es möge etwas geschehen, irgendetwas, das die grässliche Anspannung durchbrechen würde. Verstohlen warf sie einen Blick auf Cadvan. Seine Züge wirkten entspannt, seine Augen wachsam. Sie holte tief Luft. Scheinbar Stunden harrten sie in dieser Geräuschlosigkeit aus. Gelegentlich verlagerte Maerad das Gewicht, um Sitzkrämpfe zu lösen, Cadvan hingegen rührte sich nie. »Vielleicht sind sie verschwunden«, meinte sie schließlich. »Wir haben seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört.«
»Pssssst«, zischte Cadvan. »Das Einzige, was wir als sicher annehmen können, ist, dass sie nicht verschwunden sind. Horch!«
»Aber da ist nichts, was ich hören könnte.«
»Sie warten. Sie wollen, dass Furcht unseren Willen schwächt. Unsere Angst nährt sie, ist ihr Lebensblut, ihr Brot. Hungere sie aus! Schick deinen Geist hinaus in die Nacht. Nutz die Gabe, die du besitzt. Lausche damit in die Nacht. Dann wirst du sie hören.«
Maerad fragte sich, was er meinte. Vielleicht sollte sie … Versuchsweise sammelte sie ihre Gedanken und stellte sich ihren Geistjenseits der Mauern des Wachthauses vor. Sogleich verspürte sie Kälte, obwohl sie immer noch mit dem Rücken zum Feuer saß. Es war, als wäre sie tatsächlich aus dem Turm getreten, wenngleich sie nur die gegenüberliegende Mauer vor sich sah. Dafür hörte sie das träge Schlagen von Schwingen - Schwingen von Kreaturen, die sie sich nicht auszumalen vermochte, Schwingen ohne Federn, klauenbewehrt und schwer. Außerdem vernahm sie ein Zischen gleich frostigen Luftzügen, die von kalten, ledrigen Blasebälgen eingesogen und ausgestoßen wurden.
»Schwingen«, flüsterte sie. »Riesige Schwingen. Wie von Fledermäusen, nur dass die Fledermäuse so groß wie Wölfe sind.«
»Ja. Sie sind nah. Die Schranke wird sie nicht abhalten. Ich kann sie nicht hoch genug bauen.«
»Aber ich sehe nichts, Cadvan, ich sehe gar nichts.« Mit geweiteten Augen wandte sie sich ihm zu. »Sie sind so groß - ich kann hören, wie groß sie sind. Was sollen wir nur …«
»Still!« Wie eine zornige Schlange wirbelte Cadvan zu ihr herum. »Ich kann dir nicht die Hand halten wie einem verängstigten Kind. Wenn wir diese Nacht mit heiler Haut
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