Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
trotzen konnte. Hinter ihnen marschierten Dinge, die sie nicht zu benennen vermochte und deren Anblick ihr das Herz erstarren ließ. Es waren dunkle, menschenähnliche Kreaturen, die dreißig oder mehr Spannen hoch aufragten und trotz ihrer Größe schwierig zu erfassen waren: Sie schienen aus Schatten und Dampf zu bestehen, und ihre Bewegungen wirkten noch bedrohlicher als jene der Irzuk. Sie wateten durch die kämpfenden Soldaten wie durch seichtes Wasser, und wo sie die Schritte hinsetzten, fiel alles - Freund und Feind - zu Boden. Als sie sich der Front näherten, geriet der Vormarsch der schillernden Banner Turbansks ins Stocken, und sie zogen sich zurück.
»Verstümmeler«, erklärte Juriken, der das Geschehen an Zelikas Seite eingehend beobachtete. »Schauergestalten aus Schatten, Nebel und Krankheit, heraufbeschworen von Hexern. Wir haben sie erwartet: Sie sind weit tödlicher als die Hundsoldaten, und weder Eisen noch Feuer kann ihnen etwas anhaben. Die Barden werden sie eine Zeit lang auf Abstand halten, falls es ihnen gelingt. Aber die Verstümmeler sind nicht gegen Regen gefeit.«
Damit starrte er zu den Wolken empor, als wollte er ihnen befehlen aufzuplatzen, und tatsächlich: Während er sprach, landete ein warmer Regentropfen in Zelikas Gesicht. Dann ein weiterer. Binnen weniger Augenblicke prasselte der Regen mit blendender Plötzlichkeit hernieder.
Zelika spähte verzweifelt durch das Gewirr der Tropfen, doch sie fielen so heftig, dass sie kaum einhundert Spannen weit sehen konnte. Irc krächzte missfällig, sprang auf ihre Schulter und versuchte, sich unter ihrem Haar zu verkriechen.
»Mehr werden wir nicht sehen«, sagte Juriken,der regelrecht brüllen musste, um das Getöse des Regens zu übertönen; auch er starrte in die graue Düsternis, als könnte seine Sicht die dichten Regenschleier durch blanke Willenskraft durchdringen. Dann ergriff er mit plötzlicher Entschlossenheit, als hätte er endlich eine Entscheidung über etwas getroffen, das ihm Kopfzerbrechen bereitet hatte, Zelikas Ellbogen und führte sie zurück in den Turm. In dessen Innerem war das Prasseln des Regens leiser. Zelika stieß vor Erleichterung darüber, aus dem Schauer geflüchtet zu sein, den Atem aus und wischte sich das triefnasse Haar aus den Augen.
»Was wird geschehen?« Zelika drehte sich Juriken zu. All ihr vorheriges Klagen war vergessen. Ein dünnes Rinnsal Wasser lief ihr über das Gesicht und tropfte ihr von der Nasenspitze und vom Kinn.
»Viele Menschen werden sterben, sterben in diesem Augenblick, auf beiden Seiten. Und die meisten werden den Tod verdienen, den sie erleiden.« Juriken wandte sich Zelika zu, um sie anzusehen, und einen Augenblick schien er vergessen zu haben, dass er mit einem jungen Mädchen sprach. Sein Gesicht wirkte abgezehrt, seine Schultern hingen schlaff vor Erschöpfung oder Kummer herab. »Sag, Zelika, verdient es ein Sklave zu sterben? Denn Imank setzt unzählige Sklaven ein; diese Streitkräfte bestehen nicht nur aus Untoten.«
»Sie greifen uns an«, gab Zelika zurück, die Jurikens Worte verwirrten. »Mir tun sie nicht leid. Sie wollen uns töten.«
Jurikens auf sie gerichteter Blick wurde klar, als kehrte er aus einer inneren Ferne zurück.
»Ja, Zelika«, meinte er mit sanfter Stimme. »Dennoch sind Ängste, Lügen, Hass und Verzweiflung allesamt Formen von Versklavung und gebieten Mitleid. Nun ja, möge das Licht sie alle behüten.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wischte das Wasser weg, und Zelika stellte erstaunt fest, dass seine Gesichtszüge zitterten. Unvermittelt fragte sie sich, wie alt er wirklich sein mochte: Sie hatte gehört,dass Barden lange lebten. Und Juriken sah plötzlich aus, als wäre er hunderte Jahre alt. Doch er ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Juriken. »Wir müssen zurück zum Ernan, wo du mit Hem warten wirst - ich gehe davon aus, dass er getan hat, was ihm aufgetragen wurde. Ich selbst werde mich danach um meine Pflichten kümmern.« Während er sprach, ertönte ein gewaltiger Knall, und die Turmmauern erbebten. Irc flatterte erschrocken auf und kauerte sich zittrig wieder auf Zelikas Schulter. Im Augenblick wollte er nur so weit wie möglich weg von den Stadtmauern. Er hatte ein äußerst schlechtes Gefühl dabei, hier zu sein.
»Was war das?«, fragte Zelika, deren Augen im Fackelschein groß und dunkel wirkten. »Imank nutzt die Gelegenheit«, antwortete Juriken, »und ergreift
Weitere Kostenlose Bücher