Die Pelzhändlerin (1. Teil)
er hinzu.
«Ich entscheide selbst, wann ich erschöpft bin», entgegnete Sibylla leise. «Ich kann mehr arbeiten als ihr alle zusammen.»
Dann reckte sie den Kopf und verließ mit energischen Schritten die Werkstatt.
Ich sollte mich wirklich ausruhen, dachte Sibylla, als sie am Abend für einige Minuten unter der Haustür Luft schöpfte. Ich möchte nur noch schlafen.
Sie lehnte sich an die Hauswand, die die Hitze der Sonne gespeichert hatte, und blickte die Straße hinab, ohne etwas zu sehen.
Wie lange halte ich das noch durch?, dachte sie. Am Tag die Geschäfte und nachts das Wachen an Jochens Bett, die ewige Angst um ihn und das schlechte Gewissen. Manchmal wünsche ich, er würde endlich sterben, damit ich schlafen kann. Sie erschrak und strich sich energisch über die Stirn, als wollte sie die Gedanken wegwischen.
Sie hörte ein leises Kichern und sah gerade noch zwei Schatten, die um die Hausecke bogen. Es war Katharina mit einem jungen Burschen, den sie nicht kannte. Sie standen zwischen Hauswand und Abfallgraben und hielten einander eng umschlungen. Sibylla konnte den Blick nicht von den beiden nehmen. Katharina hatte sich an die Hauswand gelehnt, den Kopf weit nach hinten gebogen. Der Mund des Mannes strich über ihren Hals, seine Hände streichelten Katharinas Busen unter dem Brusttuch. Der Mund glitt tiefer, über die Brüste, die Hände hatten ihren Weg unter Katharinas Rock gefunden. Das Mädchen stöhnte verzückt auf.
Sibylla spürte, wie etwas in ihr zersprang. Sie krümmte sich, konnte die Tränen nicht zurückhalten. Wie ein geprügelter Hund wandte sie sich ab und schlich davon.
Die beiden Liebenden hatten nichts von Sibyllas Qual bemerkt, doch ein anderer war Zeuge der Szene geworden. In der Dämmerung hatte er auf der gegenüber liegenden Seite der Gasse gestanden.
Jetzt ging er langsam auf Sibylla zu, fasste sie an den Schultern, zog sie an sich und strich ihr behutsam übers Haar. Sibylla erschrak, doch als sie sah, wer sie da in die Arme zog, ihr Schutz und Geborgenheit gab, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Es war Isaak Kopper, der gekommen war, um nach Jochen zu sehen.
Lange standen sie so. Kopper hielt sie wie ein Kind und flüsterte: «Es wird alles gut. Alles wird gut.»
«Nichts wird gut. Niemals», schluchzte Sibylla niedergeschlagen.
«Pscht, pscht!», machte Kopper.
Sie hob ihm ihr tränennasses Gesicht entgegen. Er nahm es in beide Hände und bedeckte die Tränen mit Küssen. Als er sie ansah, hatte Sibylla zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, verstanden zu werden.
Lange standen sie so da, bis sie Schritte auf der Gasse hörten. Sibylla kroch die Schamröte ins Gesicht, doch der Nachtwächter, der grüßend vorbeiging, beachtete die beiden kaum.
«Warum bist du gekommen? Was hast du hier gemacht?», fragte Sibylla, als der Wächter in der nächsten Gasse verschwunden war, und merkte nicht, dass sie das vertrauliche Du verwandte.
«Ida schickt mich, damit ich nach deinem Mann sehe.»
Sibylla nickte. «Er liegt im Sterben. Es ist meine Schuld.»
Kopper schüttelte den Kopf, strich ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.
«Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Du hast gehandelt, wie du musstest. Jochen ebenfalls.»
Zusammen betraten sie das Haus, taten dabei, als wäre nichts geschehen, fanden sogar zur förmlichen Anrede zurück. Isaak Kopper untersuchte Jochen, zog ihm die Lider hoch, klopfte die Brust ab, gab ihm noch einen Löffel von Idas Trank und stellte eine neue, volle Flasche auf den Nachtkasten.
«Er ist über den Berg», sagte Kopper und blickte Sibylla an, die neben dem Bett stand und fahrig den Stoff ihres Oberkleides zerknüllte.
Sibylla atmete bei diesen Worten auf. Kopper sprach weiter: «Sein Körper ist geschwächt. Schlagt jeden Tag ein Ei in ein Glas Rotwein und gebt Zucker dazu. Das wird ihn wieder auf die Beine bringen. Doch jetzt braucht er viel Ruhe.»
«Danke», flüsterte Sibylla. «Danke.»
Als sie Kopper zur Tür brachte, fiel ihr die Flasche mit dem grünen Saft wieder ein.
«Was ist das für ein Gebräu?», fragte sie.
«Eine Mischung aus Thymian und Fenchel, mit Honig und Alkohol versetzt. Es befreit die Lunge und löst den Husten. Eines von Idas Geheimrezepten.»
Sibylla zögerte, doch ihre Neugier ließ sich nicht zügeln. Nein, Neugier war es nicht. Sie hatte Angst. Noch immer fürchtete sie, entdeckt und als die entlarvt zu werden, die sie war: eine Betrügerin.
«Auf dem Flaschenboden prangt
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