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Die Pelzhändlerin (1. Teil)

Die Pelzhändlerin (1. Teil)

Titel: Die Pelzhändlerin (1. Teil) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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grußlos für Bekannte, die ihr verwundert nachsahen. Sie spürte ein Stechen in der Brust, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sibylla rannte einfach weiter, bis der Main ihrem Lauf ein jähes Ende bereitete. Atemlos stand sie da und hielt sich die schmerzenden Rippen.
    Wählen wir das Schicksal, oder wählt es uns?, dachte sie wieder und ließ sich auf einen großen Stein am Ufer sinken. Sie betrachtete den Fluss, der träge vorüberfloss, so, wie es seine Aufgabe war.
    Am Anfang hatte ihr das Schicksal einen Platz als Wäscherin zugewiesen. Dann hatte es Sibylla Wöhler sterben lassen. Und dann war sie gekommen, hatte ihr Los selbst gewählt und sich an Sibyllas Platz gestellt. Unfähig jedoch, an diesem glücklich zu sein.
    Ich muss wieder wählen, überlegte Sibylla. Wenn man einmal angefangen hat, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann gibt es keine höhere Gewalt mehr. Schicksal und Eigenverantwortung schließen einander aus. Und deshalb war sie nun bis zu ihrem Lebensende dazu gezwungen, für sich allein zu entscheiden. Sie hatte kein Schicksal mehr.
    Ich bin ich. Bin nicht die Wöhlertochter, und mein Leben verläuft nicht so, wie es ihr bereits vorgezeichnet war. Auch wenn sie nicht loslassen will, einmal muss sie mich gehen lassen. Einmal wird sie merken, dass es nichts mehr gibt, was uns verbindet, dachte sie und fühlte sich erleichtert.
    Aber diese Erkenntnis musste noch bis zu ihrer Seele vordringen. Erst dann würde sie nachts nicht mehr von der Anderen träumen.
    Sibylla stieß einen tiefen Seufzer aus. Zwei schwarze Vögel zogen am Himmel ihre Kreise. Sie kamen immer näher. Es wären Krähen. Sibylla sah genauer hin und erblickte ein winziges Kätzchen, das mit seinen ungeschickten Pfoten nach einigen Grashalmen schlug und nichts von der Gefahr ahnte, in der es sich befand.
    Plötzlich stieß eine der Krähen nieder, landete schwer auf dem zarten Körper, ihr spitzer schwarzer Schnabel hackte auf das Köpfchen ein. Die Katze schrie und wollte weglaufen, doch die Krähe hatte sich auf das kleine Tier gesetzt, sich im Fell festgekrallt und hackte weiter auf es ein. Nun stieß auch der andere Vogel herab, sein Schnabel zielte in die Augen der Katze.
    Sibylla saß wie erstarrt.
    «Nein», flüsterte sie. «Oh, mein Gott, nein!»
    Sie fühlte die Schnabelhiebe, als träfen sie ihren Körper. Das Gekrächze kam ihr wie ein höhnisches Gelächter vor.
    Sie wollte hinlaufen, das Kätzchen retten, doch ihre Angst vor den Krähen lähmte ihre Glieder.
    Die kleine Katze versuchte mit den Pfoten nach dem Riesenvogel zu schlagen, doch sie brach unter dem Gewicht der anderen Krähe auf ihrem Rücken zusammen, schrie nicht mehr, wimmerte bloß leise und hatte die Augen geschlossen, als wartete sie nur noch auf ihren Tod. Sibylla erschauerte.
    Nein, die kleine Katze war ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Sibylla war da, um sie zu retten.
    Ihre Erstarrung ließ nach, und plötzlich konnte sie sich erheben, nach einem Knüppel greifen und zu dem Kätzchen stürzen. Eine der Krähen wandte den Kopf in Sibyllas Richtung und stieß drohende Laute aus. Die Vögel waren nicht bereit, ihre Beute herzugeben, freuten sich schon auf das zarte Fleisch des kleinen Tieres. Sibylla sah, dass das Kätzchen zitterte, sah das Blut, das ihm aus der linken Augenhöhle floss, und dass die andere Krähe immer wieder nach dem noch vorhandenen Auge hackte.
    Sibylla schwang drohend den Knüppel, doch die Gier der schwarzen Vögel war größer als die Angst vor dem Tod. Wenn ich die Krähen treffe, treffe ich auch Sibylla, dachte sie, schloss die Augen und holte mit aller Kraft aus.
    Sie spürte den Knüppel zu Boden krachen, hörte das Zerbrechen von Knochen und den kreischenden Schrei des anderen Vogels. Langsam öffnete sie die Augen. Vor ihr auf dem Boden lag die Krähe, die mit dem Schnabel nach den Augen des Kätzchens gestoßen hatte. Sibylla hob erneut den Knüppel und ließ ihn auf den Krähenkopf krachen, der unter der Wucht des Schlages aufsprang wie eine Nussschale. Blut spritzte, Knochen knackten, das leise Gekrächz verstummte, doch Sibylla konnte nicht aufhören, auf die Krähe einzuschlagen. Immer wieder schwang sie den Knüppel, bis ihr Arm erlahmte. Erschöpft hielt sie inne, sah die Reste, die einmal eine Krähe gewesen waren, das Blut und die Knochenstücke, die ringsum verteilt waren.
    Dann erst ließ sie den Knüppel fallen, rang nach Atem und brachte schließlich keuchend einen Satz hervor:

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