Die Pension am Deich: Frauenroman
beobachten.
»Sie hätten die Stelle als Dienstmagd bekommen«, stellt sie grinsend fest. Anne schaut sie irritiert an.
»Na ja, früher haben die Dienstherren, vor allem die Bauern, die vorstelligen Mägde oder Knechte zu einer Mahlzeit eingeladen. Da war man echt der Meinung, man arbeitet, wie man isst.«
Anne lächelt verstehend. »Ach so. Ja, schön wär’s, wenn das wahr wäre. Ich bin leider ein Langsamarbeiter.«
Tomke steht auf und räumt ab. Dann wischt sie fix über die Tischfläche, in der einen Hand das feuchte Tuch, in der anderen eines zum Trocknen. Das geht so blitzschnell, dass Anne gar nicht in Versuchung kommt, ihr Hilfe anzubieten.
»Wenn ich Ihre flinken Bewegungen sehe, stellt sich die Frage: Essen Sie nun schnell oder langsam?«
»Bingo«, lacht Tomke. »Recht langsam, aber sehr gerne.«
Sie bleibt an der Spüle stehen und sieht nach draußen.
»Was meinen Sie, wollen wir uns noch einen Augenblick auf die Terrasse setzen? Oder können Sie die frische Luft nicht ab, wegen der Allergie?«
Sie sieht Anne prüfend an: »Die ist schon etwas besser geworden, nicht wahr? Na ja, eben gesunde Nordseeluft.«
»Leider nicht nur. Ich habe mir die Unterstützung der Chemiekeule gegönnt. Ich wollte einfach nicht warten, immerhin bin ich nur vier Tage hier.«
»Schade, Sie sollten bleiben, solange die Bäume blühen. Es kommen viele Kurgäste deswegen hierher.«
»Das habe ich bald vor. Meine Tochter wird in diesem Herbst sechzehn. Im nächsten Frühjahr kann ich ihr zumuten, eine Zeitlang allein zu bleiben.«
»Wenn sie ein vernünftiges Mädchen ist, auf jeden Fall«, stimmt Tomke ihr zu. Ihr Gast gefällt ihr immer besser. Das hört sich ganz danach an, dass sie auch keinen Mann zu Hause hat.
»Das ist sie schon, ich meine: vernünftig. Dabei fällt mir ein, dass ich Ihre Telefonnummer als Verbindung angegeben habe. Ich besitze kein Handy, und Lisette übernachtet bei ihrer Freundin. Ich will mir Kontrollanrufe verkneifen, aber sie sollte mich im Falle eines Falles erreichen können.«
»Sehr schlau. So diplomatisch war ich nie«, gibt Tomke offen zu.
»Na ja, Diplomatie ist nur so lange eine gute Strategie, so lange sie nicht durchschaut wird.«
Die beiden Frauen gehen auf die Terrasse und rücken sich Stühle zurecht. Tomke holt noch Sitzkissen und leichte Wolldecken. Sie zündet die Petroleumlampe auf dem Tisch an. Die Luft ist wirklich ganz sanft. Kaum Wind. Das haben sie selten.
»Lisette hört sich irgendwie französisch oder niederländisch an«, knüpft sie an das Gespräch an.
»Ja, Lisette ist in Amsterdam geboren.« Und nach einem kurzen Zögern fügt Anne hinzu: »Ihr Vater ist Niederländer.«
Kapitel 10
Der erste Morgen in der Pension für Frank und Monika
Jana und Jonas laufen auf den Steg. Viel zu dicht am Rand. Monika schreit ihnen hinterher, aber sie ist zu weit entfernt. Ihre Stimme wird vom Wind zerrissen und weggetragen, bevor sie die beiden erreichen kann. Warum toben sie nur so leichtsinnig nah am Wasser? Sie hat es ihnen ausdrücklich verboten. Wo ist überhaupt Frank? Hatte er nicht versprochen, auf sie zu achten? Monika fängt an zu rennen, erkennend, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen wird. Das ist das Schlimmste. Das Bewusstsein, ihre ganze Energie in diesen Lauf, ihre persönliche Bestleistung zu geben. Und zu wissen, es wird nicht reichen. Sie wird nicht früh genug bei ihnen sein, um sie zu beschützen. Sie muss hilflos mit ansehen, was sie befürchtet hat. Ihre Kinder rutschen von dem schlüpfrigen Holz ab und fallen ins Wasser. Wie in Zeitlupe und doch unaufhaltsam werden sie von dem dunkel glänzenden Nass geschluckt. Monika kennt diesen Traum. Er verfolgt sie schon einige Zeit. Aber sie kann und kann ihm keine positive Wende geben. Sie schreit und weint gleichzeitig, aber zu spät. Sie kommt wie immer erst am Steg an, wenn auf der Wasseroberfläche müde Kreise ziehen und nur noch ein paar Luftblasen zu sehen sind. Monika springt hinterher und wacht auf.
Sie hält die Augen geschlossen. Versucht, sich zu entspannen. Sie atmet tief ein und konzentriert aus. Bemüht sich, den Kloß aus Angst loszuwerden. Warum quält sie dieser elende Traum immer wieder? Und wieso ist sie ihm ohnmächtig ausgeliefert, nicht in der Lage, seinen Verlauf zu verändern? Sie hat gelesen, dass man im Traum sein Bewusstsein einsetzen muss. In dem Augenblick, in dem sie denkt, sie schafft es nicht, ist es schon zu spät. Mit ihrer vorausschauenden
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