Die Pension am Deich: Frauenroman
Badegäste oft und am Morgen weckt sie ihre Routineaufstehzeit. Sie sind früher wach als geplant und haben Hunger. Dann stehen sie unschuldig lächelnd unten, und sie hat kein Frühstück vorbereitet. Nee, auf den hausgemachten Stress kann sie gut verzichten.
Die erste Tasse Tee am Morgen trinkt sie gern in Ruhe, bevor ihr jemand vor den Füßen steht. Dieses Ritual hat ihr gefehlt. Sicher, Tee könnte sie auch ohne Gäste in aller Seelenruhe trinken. Den ganzen Vormittag über, falls es ihr in den Sinn käme. Aber die Zeit des Alleinseins kann sie nur genießen, wenn sie begrenzt ist und sich nicht wie ein grauer Schleier über den ganzen Tag legt. So wie heute Morgen. Dann wird die Tasse Tee zu einem kostbaren Augenblick. Wir Menschen machen uns das schon nicht einfach, denkt Tomke und setzt das Wasser auf.
Sie schaltet das Deckenlicht aus und zündet eine Kerze an. Ihre Flamme wirft diffuse Lichtkreise. Draußen beginnt gerade die Morgendämmerung. Es ist diesig. Durch den Dunst erkennt man vage die Konturen des Deichs. Tomke liebt das Zwielicht. Sie kann sich nicht vorstellen, in einem Land ohne Übergang zu leben. Torben war letztes Jahr in Kenia. Dort wird es schlagartig Tag und Nacht. Wie an- und ausgeschaltet. Knips an. Knips aus. Nee, das wäre nichts für sie. Sie braucht das weiche Schummerlicht dazwischen. Paul liebt das auch. Liebte, korrigiert sich Tomke streng, als würde es um einen Verstorbenen gehen. Aber die zeitliche Abgrenzung wirkt nicht wie ein Wundermittel. So leicht lässt Paul sich nicht aus ihrem Leben streichen. Gegen ihren Willen schieben sich Bilder aus der gemeinsamen Vergangenheit in den Vordergrund. Das Aufwachen im ersten Morgenlicht. Ganz nah nebeneinander. Den zärtlichen Blick von ihm auf dem Gesicht zu spüren, die Begegnung ihrer … Tomke unterbricht ihre Gedanken. Bloß nicht an das Zusammenaufwachen denken. Es war zu schön. Sie hätte niemals eine ganze Nacht mit ihm verbringen dürfen. Sie hätte konsequent bleiben müssen, wie die Jahre zuvor. Treffen nur am Mittwoch. Immer in dem Apartment in Wilhelmshaven. Kein Restaurantbesuch. Überhaupt keine öffentliche Veranstaltung gemeinsam besuchen. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, Bekannten zu begegnen. Ihre Ehepartner sollten nicht in kompromittierende Situationen gebracht werden. Dabei wusste Gerald Bescheid, im Gegensatz zu Pauls Frau. Diskretion war Geralds einzige Forderung. Sonst hatte er ihr Liebesleben stillschweigend und ohne sichtbare Eifersucht toleriert. Tomke hatte sich an die Abmachung gehalten. Sie hatte sogar in Pauls Apartment geduscht, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Eine überflüssige Rücksichtnahme. Gerald kam ihr nie so nah, dass er den Sex hätte riechen können.
Nach seinem Tod brauchte sie keine Vorsichtsregeln mehr zu beachten. Und ehe sie es richtig begriff, hatte sie die Kontrolle über ihre Gefühle verloren. Alt wie eine Kuh und lernt nichts dazu, denkt Tomke. Naiv wie ein Backfisch. Sie hatte alle Zeichen, dass Paul sich nie scheiden lassen würde, übersehen.
Sie nimmt ihren Tee und geht nach draußen auf die Terrasse. Die Luft ist feucht und kühl. Aber es wird ein schöner Tag. Die Sonne kämpft sich bereits erfolgreich durch den Morgennebel und verfärbt ihn zartrosa. Prima! Das macht zufriedene Gäste, und vielleicht bekommt sie einen Kurzentschlossenen dazu. Am liebsten einen Alleinreisenden, wie Anne Wilkens. Die beginnt ihr zu gefallen. Das hätte sie auf den ersten Eindruck nicht vermutet. Sie wirkte irritierend, ja einschüchternd. Allein durch ihre imposante Körpergröße und die schwarze Kleidung. Wenn man sich Schnupfnase und rote Augen wegdenkt, ist sie mit ihren üppigen Locken überwältigend attraktiv. Auf der anderen Seite hat sie eine scheue Ausstrahlung, wie ein junges Mädchen. Fast ein bisschen schusselig. Sie ist alleinerziehend und hat anscheinend weder Auto noch Handy. Aber einen Laptop dabei. Sie hat schon nach einem WLAN-Anschluss gefragt. Den hat Torben mit einer Codenummer gesperrt. Davon hat Tomke keine Ahnung. Die wird sie sich anscheinend aneignen müssen. Das ist der Trend, würde Juliane sagen. Die Gäste wollen online gehen. Sie hat Frau Wilkens fürs Erste angeboten, jederzeit bei ihr unten ins Internet zu kommen. Das hat sie lächelnd abgelehnt. Was sie wohl beruflich macht? Sie wird sie beim Frühstück fragen. Die Berufe ihrer Gäste haben sie schon immer brennend interessiert. Die altvertraute Neugier in sich zu spüren, tut gut. Wie der erste
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