Die Pension am Deich: Frauenroman
Befürchtung liefert sie sich dem Geschehen aus. Sie muss versuchen, positiv zu denken. Sich einen anderen Ausgang vorstellen. Zum Beispiel, ihre Kinder fallen, aber auf dem Wasser schwimmt eine riesige Luftmatratze, die sie auffängt. Das verändert ihr Traumerlebnis. Nicht nur das. Es wird sich auch auf ihre Realität auswirken.
Monika öffnet vorsichtig die Augen. Sie hofft, die Nacht ist zu Ende. Nach diesem Traum schläft sie ungern weiter, weil sie Angst vor dem nächsten hat.
Weiches Dämmerlicht kündigt den Morgen an. Das ist gut. Aber warum ist das Fenster plötzlich auf der linken Seite? Monika braucht Sekunden, bis sie begreift, wo sie sich befindet. Sie ist nicht zu Hause. Sie ist in einer Pension an der Nordsee. Frank liegt neben ihr. Sie sind verreist. Einfach so.
Monika dreht sich zum Fenster. Dieser Verlusttraum ist wieder präsent, seit Erik ihre Gefühle durcheinandergewirbelt hat. Dieser Steg-Albtraum ist ihr nicht unbekannt. Aus einer anderen, längst vergangenen Zeit, als die Zwillinge noch klein waren. Da hat er in unregelmäßigen Abständen zu ihren Nächten gehört und jedes Mal panische Angst in ihr zurückgelassen. Manchmal war sie aufgestanden und ist zu ihren Kinder gelaufen. Sie hat einen Moment an ihren Betten gestanden und glücklich ihren friedlichen Schlaf beobachtet. Sie waren in Sicherheit. Geschützt in der Geborgenheit ihrer Kissen und Kuscheltiere.
Monika dreht sich zu Frank und betrachtet ihn. Er schläft. Seine Atmung geht ruhig und regelmäßig. Wie gewohnt liegt er auf dem Rücken. Das vertraute Bild berührt sie. Er lässt mich nicht allein und schon gar nicht ins Wasser fallen. Er vertraut mir, und ich kann ihm auch vertrauen.
Frank öffnet unter ihrem intensiven Blick die Augen und sieht sie so hellwach an, als hätte er nicht gerade eben noch fest geschlafen.
Er streckt seine Hand aus und streichelt ihren Arm. Monika lächelt. Es ist lange her, dass sie zusammen aufgewacht sind. Ohne Zeitdruck zu haben, der nur einen flüchtigen Kuss nach dem Aufwachen zulässt. Wie ferngesteuert durch die Morgenroutine zu tapsen und schnell aus dem Haus. Jeder zu seiner Arbeitsstelle. Frank in seine Bank und sie in die Kindertagesstätte. An den Wochenenden haben sie sich auch keine Muße gegönnt. Es staut sich immer so viel in der Woche an. Arbeiten im Haus und Garten oder überfällige Verabredungen.
»Na, hast du was Schönes geträumt?«, fragt Frank sie liebevoll.
»Nichts Schönes und nichts, was in Erfüllung gehen sollte. Und du?«
»Leider wie immer nichts. Dabei würde ich auch gerne nachts mal was erleben und zum Erzählen haben.«
»Jeder Mensch träumt.«
»Ich nicht«, behauptet er überzeugt und macht ein aufgesetzt wehleidiges Gesicht.
Monika muss lachen: »Unsinn, du kannst dich nur nicht daran erinnern. Das kann man übrigens trainieren.«
»Wozu?«
»Na ja, zum Beispiel, um mir morgens deinen Traum erzählen zu können.«
»Du erzählst mir deinen doch auch nicht.«
Monika muss betroffen schlucken. Er hat recht. Aber er hat auch lange nicht mehr danach gefragt.
»Jonas und Jana sind vor meinen Augen ertrunken, und ich konnte sie nicht retten«, sagt sie leise.
Frank rutscht dicht an sie heran und massiert ihr sanft die Kopfhaut. Sein schlafwarmer Körper legt sich eng an ihren.
Monika lässt die Berührung zu. Kommt ihr sogar entgegen. Dabei ist sie noch nicht so weit. Sie würde gerne warten, mehr Nähe zu ihm aufbauen, dass sich die Lust entwickeln kann. Aber sie hat Sehnsucht nach ihm. Die Nähe wird nachrücken. Hoffentlich.
Auf dem Flur weht eine Fahne aus frischem Kaffeegeruch. Herrlich. Monika hat richtigen Hunger und freut sich auf ein anständiges Frühstück. Kein Wunder. Es ist bereits neun Uhr. So spät hat sie seit Ewigkeiten nicht den ersten Kaffee getrunken.
Der Tagesraum ist leer. Aber auf einer Anrichte stehen appetitliche Käseteller und Schälchen mit Frischkäse und Marmelade, Obst und ein großzügig gefüllter Brötchenkorb.
»Moin«, ertönt Tomkes freundliche Stimme. Sie steht blitzschnell hinter ihnen. Anscheinend hat sie schon auf sie gewartet.
»Haben Sie gut geschlafen?«
»Wie die Babys!«, verkündet Frank gut gelaunt für beide.
Tomke nickt, als hätte sie keine andere Antwort erwartet. Sie trägt heute Morgen ein wesentlich vorteilhafteres Oberteil. Sein leuchtendes Türkis unterstreicht die Farbe ihrer Augen. Sie hat sehr schöne, denkt Monika. Das intensive Grün habe ich gestern gar nicht wahrgenommen.
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