Die Perserinnen - Babylon 323
nachzuhallen, als sei es das Schicksal selbst gewesen, das gesprochen
hatte.
Inmitten der betretenen Stille öffnete sich die Tür.
„Ich habe Geschrei gehört“, sagte die Königinmutter.
Sie stand zwischen den Türpfosten, auf eine alte Dienerin
gestützt, und sah aus, als könne sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Alle
Anwesenden verneigten sich tief, nicht nur aus Respekt vor Sissingambris Rang,
sondern auch wegen ihres Alters und der Macht ihrer Persönlichkeit.
„Ich bin eigens aufgestanden, um nachzusehen, was hier vor
sich geht“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Also, was ist los?“ Sie sah von
einem Gesicht zum anderen, ehe ihr Blick an dem ihres Stiefsohns hängenblieb.
„Okschatra?“
„Es ist nichts, Mutter“, beteuerte er wenig glaubwürdig.
„Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
Vischtaspa verneigte sich und ergänzte: „Wir haben über die
Zukunft unseres Reiches beraten, und dabei ist die Leidenschaft mit uns
durchgegangen. Ich fürchte, wir haben uns vergessen, aber das ist jetzt
vorbei.“
„Heißt das, ich kann mich beruhigt zurückziehen, ohne dass
ihr versucht, euch gegenseitig umzubringen?“
„Das heißt es, Banuka. Ich garantiere dafür.“ Vischtaspa
verbeugte sich nochmals.
Sissingambri wandte sich Paruschjati zu, die immer noch
reglos vor ihrem Sessel stand. „Mein Kind, würdest du bitte mit mir kommen? Ich
möchte mit dir sprechen.“
Paruschjati schritt durch den Raum und folgte der
Königinmutter. Dieser Versammlung hatte sie ohnehin nichts mehr zu sagen.
„Sie streiten sich wie streunende Hunde um ein Stück Aas.“
Ihre Dienerinnen hatten Sissingambri auf eine Liege gebettet
und eine Decke über sie gebreitet. Erschöpft schloss die alte Königin die
Augen, während die Frau mit dem dünnen Zopf ihr mit einem feuchten Tuch über
die Stirn wischte.
Paruschjati nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz und
musterte Sissingambri besorgt. „Sie leben in der Vergangenheit“, sagte sie.
„Sie denken immer noch, sie seien die Herren der Welt, und haben nicht
begriffen, dass ihre Meinung nicht mehr ins Gewicht fällt.“
Sissingambri seufzte. „Wir Frauen haben die Zeichen der Zeit
eher erkannt als die Männer. Ich verstehe nicht, wie sie so blind sein können.“
„Die Jauna sagen, wenn die Götter einen Menschen vernichten
wollen, dann schlagen sie ihn zuvor mit Blindheit.“
„Vieles, was die Jauna sagen, ist klug. Ich mache mir Sorgen
um Statira. Raukschana hasst sie.“
„Perdikkas wird nicht zulassen, dass sie ihr etwas antut.
Raukschana hasst alle, die ihr im Weg stehen, mich, Barsine, Herakles, aber sie
kann uns nicht alle umbringen lassen. Das würde Empörung bei den Makedonen
auslösen, und das kann Perdikkas sich nicht leisten, wenn er seine ehrgeizigen
Pläne verwirklichen will. Er ist alles andere als ein Ehrenmann, aber ein
Dummkopf ist er nicht.“
„Trotzdem, Raukschana ist gefährlich. Vielleicht war sie
einmal anders, aber der Ehrgeiz hat sie hart und böse gemacht. Ihr Ehrgeiz und
die vielen Demütigungen, die sie hinnehmen musste. Ich habe gehört, Statira war
nicht eben taktvoll bei eurer letzten Begegnung. Meine Enkelin ist keine kluge
Frau. Sie wird dem, was kommen wird, nicht gewachsen sein, und ich werde nicht
mehr lange da sein, um sie zu beschützen. Drupati ist klüger, aber sie ist
immer so abwesend, sie kann sich nicht gegen Statira durchsetzen. Amaschtri
könnte es vielleicht, doch sie ist mit ihrem Mann auf dem Weg nach Westen.“
Mühsam versuchte die Königinmutter sich aufzurichten und
legte ihre Hand auf die von Paruschjati.
„Du warst schon immer ein außergewöhnlich kluges Mädchen.
Das Böse, dass du erlebst hast, hat dich nicht böse gemacht wie Raukschana,
sondern stark. Deshalb wirst du stets alle Gefahren überstehen. Auch deine
Mutter war davon überzeugt. Versprich mir, dass du ein Auge auf Statira haben
wirst, auch wenn sie es dir vermutlich nicht danken wird. Versprich es mir um
meinetwillen!“
„Ich verspreche es.“
Vorsichtig und ohne ihre Hand loszulassen, legte Paruschjati
die alte Frau auf das Bett zurück und zog die heruntergerutschte Decke wieder
hoch. Sissingambri schloss die Augen, ihr Atem ging stoßweise von der
Anstrengung. Dann wurde er allmählich wieder ruhiger, und Paruschjati dachte
schon, sie sei eingeschlafen. Behutsam legte sie die kalte, zerbrechliche Hand
auf die Decke und stand auf.
„Ich habe gehört, was du drinnen gesagt hast“, sagte
Sissingambri, als
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