Die Perserinnen - Babylon 323
Raubvogels.
Apama ließ das Licht nach oben wandern, und die Vogelklauen
gingen in menschliche Beine über. Nach und nach trat eine weibliche Gestalt aus
dem Dunkel hervor. Sie war nackt, mit ausladenden Brüsten und Hüften, die Hände
erhoben, die Arme angewinkelt. Apama entzündete zwei Kohlenbecken, die zu
beiden Seiten des uralten Götterbildes standen, und noch mehr Einzelheiten
waren zu erkennen. Aus den Schultern der Göttin wuchsen Flügel hervor. Sie trug
eine hohe Krone, ihr glattes, zeitlos junges Gesicht blickte mit überirdischer
Gelassenheit auf die Besucher herab. Vereinzelt waren noch Reste von Farbe zu
erkennen, doch die Augen, einst wohl mit edlen Steinen ausgelegt, klafften
leer.
„Welche Göttin ist das? Ischtar?“, fragte Paruschjati. Die
Göttin der Liebe und des Krieges war in Babylon allgegenwärtig.
„Vielleicht. Oder ihre Schwester Ereschkigal, die Herrin der
Unterwelt. Vielleicht stimmt es, was die weisen Frauen sagen, und alle
Göttinnen, die auf der Welt verehrt werden, sind in Wirklichkeit nur Aspekte
einer einzigen.“ Apama nickte zu dem Wandbild hinüber. „Wenn es dich beruhigt,
kannst du Anahita in ihr sehen, trotz ihrer fremdartigen Erscheinung.“
Die Göttin hielt etwas in den erhobenen Händen. Paruschjati
trat näher heran, doch die Gebilde waren so stark verwittert, dass sie nicht
mehr zu identifizieren waren. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Sie
fuhr herum und sah, wie eine Reihe dunkler Gestalten die Halle betrat.
„Hab keine Angst!“, sagte Apama. „Du schwebst nicht in
Gefahr, ich schwöre es dir bei Ahura Mazda und bei dieser uralten Göttin, die
unter meinem Haus wohnt!“
Die dunklen Gestalten hatten inzwischen an einer der
Längswände in einer Reihe Aufstellung genommen. Es waren fünf oder sechs, nein,
sieben, und ihre Umrisse verschmolzen fast mit der Dunkelheit.
„Hör dir an, was sie zu sagen haben. Bitte nimm Platz.“
Apama zeigte auf eine gemauerte Bank an der anderen
Längsseite des Raumes. Vorn, nah bei der Göttin, war ein Teppich über die
Ziegel gebreitet worden. Ein Kissen lag darauf, ein anderes war gegen die Wand
gelehnt. Der Anblick beruhigte Paruschjati mehr als Apamas Beteuerungen. Wenn
man vorhätte, ihr etwas anzutun, würde man sich wohl kaum die Mühe machen,
zuvor noch für ihre Bequemlichkeit zu sorgen. Sie setzte sich, und als hätten
sie nur darauf gewartet, ließen sich auch die dunklen Gestalten auf einer Bank
auf ihrer Seite des Raumes nieder. Wenn es Verschwörer waren, dann zumindest
höfliche.
„Danke, dass du gekommen bist, Banuka“, sagte die Gestalt in
der Mitte. Die Stimme eines Mannes. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte
Paruschjati erkennen, dass er wie auch seine Begleiter persische Kleidung trug.
Nicht die weiten, faltenreichen Hofgewänder, sondern Hosen und langärmelige
Jacken mit eng anliegenden Kapuzen, die wie bei den Feuerpriestern vor Nase und
Mund gezogen waren. Keine Chance, ein Gesicht zu erkennen.
„Wer seid ihr?“, fragte Paruschjati.
„Unsere Namen sind nicht von Bedeutung, Banuka“, erwiderte
der Mann. „Es genügt, dass wir Patrioten sind, die sich um die Zukunft ihres
Volkes sorgen.“ Seine Stimme wurde durch die Kapuze gedämpft. Paruschjati hätte
sie nicht einmal erkannt, wenn sie sie zuvor schon einmal gehört gehabt hätte.
„Was wollt ihr von mir?“
„Wie unsere Gastgeberin schon sagte: Wir sind keine Gefahr
für dich. Wir wollen nur wissen, ob du unseren Herrn, den zukünftigen
Großkönig, in dir trägst. Den König der Könige, den Herrn der Länder, geliebt
von Ahura Mazda.“
Fast hätte Paruschjati über die altehrwürdige Titulatur gelacht.
„Es gibt keinen Großkönig mehr. Es gibt nur noch König Alexander.“
„König Alaksanda ist nun der Herr der Länder“, bestätigte
der Fremde. „Die Erde erzittert unter dem Marschtritt seiner Armeen, die Völker
erbeben vor seinem Antlitz. Ahura Mazda hat ihm die Herrschaft über die Welt
verliehen. Aber auch wenn König Alaksanda manchen fast wie ein Gott erscheinen
mag, so ist er doch nicht unsterblich. Er kann nicht für ewig herrschen. Du
bist seine rechtmäßige Gemahlin – und vielleicht die Mutter seines Erben.
Deshalb sind wir hier.“
Paruschjati warf einen Blick zu Apama, die ein Stück von ihr
entfernt auf der Bank saß, den Blick auf die gefalteten Hände gesenkt,
bescheiden wie eine Dienerin. „Wie ich schon eurer Spionin erklärt habe: Ich
kann nicht sagen, ob ich ein Kind erwarte. Auch
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