Die Pestärztin
Auftauchen zu Leas Hochzeit würde man als Gnade Gottes feiern. Tatsächlich hatte ein Händler aus Landshut ihn zufällig in Venedig getroffen, wo er für ein Genter Handelshaus Tuche gegen Gewürze tauschte. Der Mann hatte ihm von der Rettung seiner Schwester erzählt und ihn dann kurzerhand mitgebracht. Eine Überraschung für Lea ... Lucia fragte sich, was sie getan hätte, wenn Daphne den Namen des unerwarteten Gastes tatsächlich verfrüht verraten hätte. Und sie zermarterte sich den Kopf darüber, wie sie hatte annehmen können, auch David sei bei dem Pogrom in Mainz umgekommen. Hatte Lea nicht etwas von seiner Rückkehr erzählt? Oder Benjamin von Speyer, damals im Bücherkabinett? Hatte der kleine Pferdeknecht nicht gesagt, Leas Bruder sei tot? Erst jetzt erinnerte sich Lucia, dass die Speyers immer nur von einer »erwarteten Rückkehr« gesprochen hatten. Tatsächlich war aber nur Juda rechtzeitig zu Leas Entbindung wieder in Mainz aufgetaucht. Und der Stallbursche musste Esra gemeint haben, als er von Leas Bruder sprach. Lucia schalt sich ein ums andere Mal für ihren verhängnisvollen Irrtum, und sie konnte Davids hasserfülltes Gesicht nicht vergessen ...
David von Speyer sah älter aus als an dem Tag, als Lucia ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Die Jahre auf Reisen, vielleicht auch der Verlust seiner Familie, hatten seinem Gesicht das Kindliche genommen. Er wirkte an diesem Tag in Landshut sehr männlich, aufrecht, absolut rechtschaffen und zufrieden mit sich selbst. Den versponnenen, ein wenig grüblerischen und vor allem rettungslos romantischen David gab es nicht mehr. Undenkbar, dass dieser Mann noch vor wenigen Jahren eine unpassende Heirat angestrebt hatte!
Lucia erinnerte sich an seine Liebesschwüre und Versprechungen, während er mit klarer Stimme ihre Verfehlungen aufdeckte.
»Ein Findelkind ... ein christliches Kind, das meine Eltern in ihrer Gnade aufnahmen ... ein Mädchen, das sich das Vertrauen meiner Schwester erschlich ...«
Er sagte nicht »Hurenkind«, wofür Lucia ihm fast schon dankbar war. Doch der Blick, mit dem er sie bedachte, war kalt und böse. Er sah keine Jugendfreundin mehr, erst recht keine Geliebte.
Aber konnte man es ihm verdenken? Auch er hatte nun jahrelang als Jude unter Christen gelebt - nicht privilegiert wie im Mainzer Stadthaus der Speyers vor der Pest, sondern verfolgt und angefeindet. Dazu hatten die Mainzer seine Familie getötet, und er konnte nicht wissen, ob sich nicht auch Lucia an den Plünderungen beteiligt hatte. Lucia dachte an Leas Magd, wie sie lachend vom Mord an ihrer Herrin erzählte.
»Lass mich doch erklären«, bat sie David. »Ich hatte das nicht beabsichtigt ...«
David musterte sie voller Verachtung.
»Wie willst du das erklären?«, fragte er dann. »Ich wundere mich nur über deinen Sinneswandel. Vor ein paar Jahren warst du dir noch zu gut dazu, einen Juden zu ehelichen!«
Lucia erkannte den Abglanz des alten Schmerzes in seinen Augen, der längst zu Hass geworden war. Er hatte sie nie verstanden. Und er hatte sich das Ende ihrer Liebe so zurechtgelegt, wie es ihm passte. David erinnerte sich nicht mehr an die erzwungenen Küsse. Für ihn war allein Lucia die Schuldige an seiner Verbannung.
Jetzt nahm er Rache.
Lucia hatte sich schließlich in ihrer Kammer wiedergefunden, beaufsichtigt von Moses' Gattin. Man hatte ihr gesagt, sie solle das Hochzeitskleid ausziehen und jeglichen Schmuck ablegen. Die Gevatterin Kahlbach hatte das kontrolliert. Schließlich hieß man Lucia zu gehen. Ohne weitere Worte. Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich in eine Trauerfeier verwandelt. Die Levins und David von Speyer saßen Kaddisch für Lea, die Schwester, deren glückliche Rettung David heute hatte feiern wollen.
Lucia erwachte erst aus ihrer Starre, als der Nachmittag schon fortgeschritten war. Leona rührte sich in ihrem Arm und verlangte nach Essen. Natürlich, das Kind war hungrig. Aber Lucia hatte keinen Kupferpfennig mehr, um ihr etwas zu essen zu kaufen. Ob sie es mit Betteln versuchte? Dazu sah sie heute sicher noch nicht genug heruntergekommen aus. Und wer wusste, wie die Bettler reagierten, wenn ihnen eine Neue die Pfründe streitig machte?
Ohne größere Hoffnung durchsuchte Lucia die weiten Taschen ihres Kleides. Sie hatte ein dunkles, für den Sommer sicher zu warmes Gewand gewählt, in dem sie als Witwe durchkommen konnte. Bislang hatte sie es meist bei der Arbeit in der Pfandleihe getragen. In einer der Rocktaschen
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