Die Pestärztin
»Als ich dich verließ, lagst du im Sterben!«
Clemens runzelte die Stirn, lächelte jedoch dabei. »Habe ich dich in der letzten Stunde nicht davon überzeugt, dass ich ganz und gar von dieser Welt bin? Oder hast du je von einem Geist gehört, der eine Sterbliche auf diese Weise geliebt hat?«
Lucia lachte. »Was die Liebe angeht, bin ich mir nicht sicher, da hört man die seltsamsten Mären«, bemerkte sie. »Aber du isst und trinkst, also musst du aus Fleisch und Blut sein. Nun erzähl es mir endlich! Wie bist du entkommen?«
Clemens nahm noch einen Schluck Wein. »Ich war mir sicher, sterben zu müssen«, sagte er langsam. »Ich hatte die Pest, das steht außer Frage. Hier ...« Er zeigte Lucia die Narben in seiner Achselhöhle. »Ich habe den Abszess links selbst geöffnet, als ich die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Rechts ging er von allein auf, und auch an der Leiste. Es war einer dieser rasanten Krankheitsverläufe ... du erinnerst dich, so etwas gab es bei manchen Patienten. Mitunter blieb einer am Leben und erholte sich dann auch schnell, zumeist aber starb man spätestens am dritten Tag. Ich war sicher, mir würde es genauso ergehen. Aber ich habe überlebt, als Einziger im ganzen Haus.«
»Aber dann hätten die Totengräber dich finden müssen«, meinte Lucia. »Die haben doch die Leichen aus den Häusern geholt. So wurde es mir jedenfalls versichert.«
Clemens lachte bitter. »Nicht nur die Leichen. Sie haben alles mitgehen lassen, was nicht niet- und nagelfest war. Ein Judenhaus ... da hielten sie sich schadlos. Und mir war auch klar, was mich als Überlebenden erwartet hätte. Bestenfalls ein rascher Tod durch ein Messer, schlimmstenfalls der Scheiterhaufen als jüdischer Hexer. Aber ich war noch zu krank, um aus dem Fenster zu klettern und davonzulaufen. Also habe ich mich versteckt.«
»Ich dachte, das Haus wurde durchsucht?« Lucia schenkte Wein nach.
Clemens nickte. »Aber Aron von Greve - so lautete der Name des jüdischen Arztes - war darauf vorbereitet. Er besaß mehrere wertvolle Manuskripte. Griechische und arabische Handschriften. Du wärst begeistert gewesen! Und er bewahrte sie in einer Truhe auf, die im Kellerboden eingelassen war. So vollständig verborgen unter einer Steinplatte des Fußbodens, dass niemand sie sah. Von Greve hoffte sogar, dass seine Schätze darin einen Brand überstanden hätten. Jedenfalls, in diese Truhe kroch ich hinein. Es war nicht sehr gemütlich. So muss es in einem Sarg sein ...«
Clemens schüttelte sich bei dem Gedanken an die Stunden in dem dunklen, engen Verlies.
»Und du warst während des Feuers darin?«, fragte Lucia entsetzt.
Clemens schüttelte den Kopf. »Nein, das denn doch nicht. Das Pogrom setzte ja erst ein paar Tage später ein, da ging es mir schon besser. Als dann das Feuer aus dem Nachbarhaus auf das Haus des Arztes übergriff, kletterte ich aus dem Fenster. Über deine Leiter, Lucia. Im Grunde hast du mir damit das Leben gerettet. Die Tür hatten sie nämlich versiegelt, nachdem sie die Toten geholt hatten.«
Lucia streichelte ihm übers Haar und die Schultern. Es fiel ihr schwer, ihn loszulassen; sie musste sich immerzu vergewissern, ihn wirklich bei sich zu haben.
»Ich war auch da«, sagte sie dann. »Im Hof von Leas Haus. Wir müssen uns knapp verpasst haben. Allerdings brannte das Haus des Arztes schon lichterloh. Ist es nicht ein Jammer um all die Bücher?« Vor Clemens wagte sie das auszusprechen. Niemand anders hätte verstanden, dass sie um ein paar alte Schriftrollen fast so sehr trauerte wie um die menschlichen Opfer der Ausschreitungen.
Clemens nickte. »Wenigstens habe ich deinen Kanon der Medizin gerettet und ein paar weitere Schriften. Ich kann sie bis heute nicht lesen, aber sie gehören zu den Schätzen des Ar-Rasi. Du wirst deine Freude daran haben.«
Lucia lächelte. »Ich habe meine Freude an dir«, sagte sie zärtlich, und Clemens küsste sie.
»Jedenfalls«, fuhr er dann fort, »schleppte ich mich zu unserem Haus in der Augustinergasse und stellte fest, dass es ebenfalls lichterloh brannte. Ich sah die Leiche Bruder Caspars und musste mit ansehen, was die Meute mit Katrina tat. Ich versuchte, nach dir zu fragen, und man sagte mir, die >Hexe< sei tot. Aus dem Haus waren Schreie zu hören. Da drin hat niemand überlebt ...«
Lucia schmiegte sich an ihn. »Ich war auch da, später allerdings. Die Stadtbüttel waren schon dabei, Ordnung zu schaffen. Jedenfalls kam ich gerade zurecht, um zu hören, wie
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