Die Pestmagd
altes Leben, das sie für immer verloren hatte. Ans Lilienhaus zu denken verbot sie sich. Doch wenn sie einmal nicht aufpasste, flog ihre Sehnsucht trotz alledem dorthin.
» Ich lebe«, hatte sie knapp zu Ludwig gesagt. » Eine Mörderin, wie Hennes behauptet, bin ich nicht. Aber das muss ich dir ja wahrscheinlich nicht sagen.« Sie wandte sich ab, denn ihre Augen wurden auf einmal doch feucht. » Wo soll ich schlafen?«
» Unterm Dach«, erwiderte er verlegen. » Es kann dort jetzt allerdings kalt werden. Und die Kammern sind sehr beengt. Hätte ich gewusst, dass eines Tages du …«
» Was für die anderen Pestmägde gut ist, taugt auch für mich«, sagte sie rasch.
Da wusste sie allerdings noch nicht, wie unbarmherzig die dunklen Stunden sich auf sie senken, wie grausam all jene Ängste, die sie im Loch ausgestanden hatte, sich ihrer erneut bemächtigen würden. Fast dankbar nahm Johanna hin, dass sie in vielen Nächten so gut wie gar nicht zum Schlafen kam, weil die Kranken schrien und stöhnten, sich fiebernd hin und her warfen, nach ihren Liebsten riefen – oder starben.
Am Morgen danach freilich fühlten ihre Glieder sich an, als habe jemand flüssiges Blei in ihre Adern gegossen, und die Lider waren so schwer, dass sie sie kaum noch aufbekam. Wie benommen ging sie zwischen den Pritschen umher, vernahm selbst durchdringendes Röcheln und lautes Wimmern nur als schwaches Stöhnen.
» Du wirst nicht lange durchhalten, wenn du so weitermachst«, ermahnte Vincent sie kopfschüttelnd, als er das Pesthaus besuchte. Er nahm, während er in der Küche mit ihr redete, seine Maske ab, was ungewöhnlich für ihn war.
» Hast du mich nicht zum Sterben hierhergeschickt?«, konterte Johanna, die seinen prüfenden Blick kaum ertragen konnte.
» An der Pest wirst du nicht sterben«, entgegnete er. » Das, was du unter deinem Band versteckst, schützt dich davor. Bleib trotzdem bei Maske und Handschuhen, wenn du mit den Kranken zu tun hast! Sonst könnten die anderen Verdacht schöpfen.«
» Woher willst du wissen, dass ich nicht an der Pest sterbe?«
» Weil ich es oftmals beobachtet habe: Wer die schwarzen Beulen einmal überlebt hat, erkrankt nicht mehr an ihnen. Du bist immun gegen die Seuche, Johanna. Hätte ich sonst den Grewen auf das Gottesurteil gebracht? Das konnte ich doch nur tun, weil ich mir sicher war.«
» Du könntest auch andere Gründe gehabt haben.« Ihre Augen leuchteten giftig grün, wie immer, wenn sie wütend wurde. » Als ich jung war, hast du mich verraten und verlassen. Als ich angeklagt war, hast du mir das Band vom Hals gerissen und dafür gesorgt, dass ich in diese Hölle verbannt werde. Was kommt als Nächstes, Vincent de Vries? Willst du dabei zusehen, wie sie mich bei lebendigem Leib als Hexe verbrennen?«
» Niemand wird dich verbrennen. Ein Gottesurteil steht über einer Anklage zur Hexerei«, sagte er.
» Und wenn nicht? Wie könnte ich ausgerechnet dir trauen?«
» Und das fragst du?« Vincent fegte mit zorniger Geste einen Topf mit Milch vom Tisch. » Du hast mich damals doch nur benutzt, um dein reiches Apothekersöhnchen eifersüchtig zu machen! Wie hieß er gleich noch mal? Herbil? Herden? Jetzt weiß ich es wieder: Hermann! Warum hat dieser Hermann dich eigentlich nicht zum Weib genommen? Weil ihm gerade noch rechtzeitig klar wurde, welche Natter er sich da ins Bett holen würde?«
Johannas Lippen begannen zu zittern, danach ihre Hände.
Mit Fäusten hatte der Oheim sie traktiert, als sie ihm eingestehen musste, dass sie den Apothekersohn nicht heiraten konnte, an den Haaren aus dem Haus geschleift hatte er sie und schließlich bei den Magdalenerinnen eingesperrt. Sein Plan, zu den reichen Familien der Stadt aufzusteigen, war nicht aufgegangen, das hatte er sie bitter spüren lassen. Schon damals war sie wie lebendig begraben gewesen – und hatte doch die Hoffnung gespürt, die in ihr wuchs. Das und nur das gab ihr schließlich die Kraft, von dort zu fliehen, auch wenn die Sorgen und Nöte, die sie plagten, danach erst richtig anfingen.
» Du weißt nichts von mir«, sagte sie mühsam beherrscht. » Gar nichts! Und das soll auch so bleiben.«
Ein Schatten ging über Vincents Gesicht, und zu ihrem eigenen Erschrecken wurde Johanna klar, wie anziehend sie ihn noch immer fand. Sein dunkles Haar war inzwischen von Silberfäden durchzogen, er hatte seine Backenzähne verloren und reichlich Falten um Mund und Augen bekommen – und doch sah sie ihn noch immer barfüßig
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