Die Pestmagd
über das kühle, taubedeckte Gras rennen, als seien erst ein paar Stunden vergangen und nicht so viele Jahre. Mit seinen frechen Liedern und Sprüchen hatte er damals wie ein leuchtender Blitz die Enge gesprengt, in der sie gefangen gewesen war, ihr eine Zukunft ausgemalt, die so freundlich und vielversprechend war, dass sie mit jeder Faser ihres Seins daran glauben wollte. Noch heute hatte sie das Quaken der Frösche in den Ohren und spürte, wie ihre Hände vor Aufregung eiskalt wurden, als er sie zum ersten Mal berührte.
Inzwischen war das Zittern in den Knien angelangt. Sie hätte ihn ohrfeigen können, mit Fäusten auf ihn einprügeln, um danach in seine Arme zu sinken und dem gleichmäßigen Schlagen seines Herzens zu lauschen. Weder Severin noch Ludwig hatten jemals ähnliche Gefühle in ihr ausgelöst.
Sie wandte sich ab, um sich nicht zu verraten.
» Die Kranken warten«, sagte sie steif. » Hast du nicht neulich behauptet, du könntest Pestbeulen öffnen, sobald sie reif sind? Im zweiten Zimmer liegt ein Junge, bei dem sind sie inzwischen fast so groß wie Hühnereier.«
Vincent setzte die Maske wieder auf und folgte ihr.
Drei Kranke lagen auf den Pritschen, zwei davon schon halb in Agonie. Vom dritten Bett kamen leise Schmerzenslaute. Die Luft in dem kleinen Raum war zum Schneiden.
Obwohl ein kalter Wind ging, lief Vincent zum Fenster und riss es auf.
» Lüften müsst ihr«, sagte er zu Johanna. » Und zwar regelmäßig. Hier stinkt es ja wie in einer Räucherstube!«
» Der Bader meinte, wir sollten …«
» Der Bader ist ein rechtschaffener Mann, aber beileibe kein Medicus«, sagte Vincent scharf. » Wenn ihr euch an das haltet, was ich sage, werdet ihr mehr Menschen helfen können.« Er drehte sich zur Wand. » Ist er das?«
» Ja«, sagte Johanna. » Anderl, so heißt er. Zwölf Jahre ist er alt.«
Vincent beugte sich tiefer über den Jungen und berührte seine Stirn. Danach überprüfte er den Puls.
» Seine Pupillen sind erweitert«, sagte er. » Und der Puls stolpert, beides untrügliche Zeichen der Krankheit. Warum ist er nicht bei seinen Eltern?«
» Beide tot. Die Tante hat ihn hergebracht, als sie die ersten Beulen an sich selbst entdeckt hat.«
» Wo sind die Beulen?«, fragte Vincent.
» An meinem Bein«, sagte Anderl, als habe er jetzt seine Sprache wiedergefunden. » Und sie tun höllisch weh.«
Johanna schlug die Decke zurück.
Die schwärzlichen Beulen an der Innenseite des rechten Schenkels hatten tatsächlich die Größe von Hühnereiern. Auch die umgebende Haut war bläulich verfärbt.
» Muss ich sterben?«, flüsterte der Junge.
Vincent legte ihm die Hand auf die Wange.
» Das bestimmt Gott allein«, sagte er. » Aber ich will versuchen, dabei zu helfen, dass es noch eine ganze Weile bis dahin dauern wird. Du musst jetzt sehr tapfer sein, versprichst du mir das?«
Anderl nickte.
» Ich brauche Schröpfgläser«, sagte Vincent zu Johanna. » Wenn möglich, drei. Eine Schüssel mit Essigwasser und saubere Tücher.«
Sie verschwand und kam nach einer Weile mit den Gläsern und der Schüssel zurück. Die Tücher hatte sie sich unter den Arm geklemmt.
» Ich dachte, du würdest ihn schneiden«, sagte sie, während er das Schröpfglas auf die dickste Beule presste.
» Manchmal geht es auch so«, sagte Vincent. » Nimm seine Hand und lenk ihn irgendwie ab!«
Johanna begann leise auf Anderl einzureden, während Vincent den Druck verstärkte.
Auf einmal schrie der Junge laut auf.
Die dunkle Beule hatte sich geöffnet. Stinkender grünlich gelber Eiter floss heraus.
» Ein ordentlicher Anfang«, sagte Vincent lobend. » Jetzt schau zu, wie ich die Wunde säubere!« Er wusch die Ränder mit Essigwasser aus, obwohl Anderl dabei wimmerte und mit den Zähnen klapperte.
Dann setzte Vincent das nächste Glas auf die zweite Beule, die ebenfalls aufbrach. Anschließend wollte er die dritte auf die gleiche Weise öffnen, doch sie schwoll zwar an, blieb aber geschlossen.
» Was wirst du jetzt tun?« Johanna hatte jeden seiner Handgriffe genau verfolgt.
» Wir könnten abwarten, ob sie von allein aufgeht. Doch er würde vermutlich besser und schneller heilen, wenn das ganze Gift auf einmal aus seinem Körper wäre.«
Vincent holte sein Messer aus der Tasche. Es konnte nicht ganz mit der Schärfe desjenigen aufwarten, das man ihm gestohlen hatte, aber er hatte es in den vergangenen Tagen schon mehrmals erfolgreich anwenden können.
» Es wird jetzt noch einmal sehr,
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