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Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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Vieh der nahe gelegenen Galtalpe darauf weidete.
    Diederich konnte nicht so schnell laufen wie sein drahtiger Bruder. Bergauf war es für den Jüngeren zwar anstrengender, aber irgendwie leichter gewesen, mit dem Älteren Schritt zu halten. Da Lodewig auf Höhe des aufgelassenen Leprosenfriedhofes auf seinen Bruder warten musste, dachte er an den alten Grabstein, dessen Schrift er schon vor Jahren mehrmals begonnen hatte zu entziffern, was er aber wegen seines damals noch bescheidenen Lateins nie geschafft hatte. Da seine Kenntnisse dank seines strengen Privatlehrers Jahr für Jahr besser geworden waren, konnte er es jetzt – wenn er schon einmal hier war – ja noch einmal versuchen.
    Der Ort wirkte düster und durch den Nebel noch bedrückender als sonst. Er ließ Lodewig erschauern. Weil dieser abseits gelegene Gottesacker von den Lebenden gemieden wurde, war auch er immer nur hier vorbeigekommen, wenn er mit Melchior und den anderen, die seiner ›Ritterschaft‹ angehört hatten, auf den Staufenberg gegangen war. So war es kein Wunder, dass er den gesuchten Grabstein zwischen den vielen morschen Holzkreuzen nicht gleich fand. Alles war von Farn und Gestrüpp überwuchert. Dazu kam noch, dass Lodewig darauf achten musste, wo er hintrat. Da die sterblichen Überreste der Bestatteten mittlerweile verrottet waren, war das Gräberfeld von Bodenmulden übersät. Und als sich auch noch ein schlieriger Nebel darüber gelegt hatte, konnte Lodewig fast nichts sehen.
    »Heilige Maria und Josef!«, fluchte er, nachdem er gestolpert und mit dem Gesicht mitten in einem Brennesselnest gelandet war. »Aua! – Verdammt nochmal!«, schrie er, als sich auch noch juckender Schmerz meldete.
    Nachdem sich Lodewig aufgerappelt, sich vom Gestrüpp befreit und sein Gesicht abgeputzt hatte, wollte er wissen, worüber er gestolpert war. Er drehte sich um und sah hinter einem Grabstein Füße aus der Nebelsuppe hervorlugen.
    Schockiert registrierte er fast gleichzeitig die verwaschene Schrift auf dem Grabstein davor: ›et verbum caro factum est‹. Wie gelähmt sog Lodewig diese Worte in sich hinein, während sich sein Blick schon wieder dort verankert hatte, wo er hoffte, das nicht mehr zu sehen, was er soeben entdeckt hatte. Als er die Füße doch wieder sah, huschte sein Blick verängstigt zum Grabstein zurück. Obwohl er vor sich die menschlichen Füße sah, hatte er nichts Besseres zu tun, als sich über den vor Jahrzehnten gemeißelten Text auf einem Grabstein Gedanken zu machen. Aber er fürchtete sich davor zu entdecken, was der zu den Füßen gehörende Körper offenbaren würde.
    »Und das Wort ward Fleisch!«, schoss es aus ihm heraus. Er stand vor jenem Grabstein, den er gesucht hatte. Jetzt hatte der Grabstein ihn gefunden, und er hatte die Schrift entziffert. Dies war im Bruchteil eines Augenaufschlages der Fall gewesen, als er die lateinische Inschrift gelesen hatte. Wie war das möglich? »Et caro factum est – und das Wort ward Fleisch«, murmelte er zweimal beschwörend hintereinander. »Fleisch!«, schoss es ihm durch den Kopf und lenkte seinen Blick wieder zu den Füßen.
    Obwohl er wie erstarrt war, gelang es dem jungen Mann recht schnell, die Fassung wiederzubekommen. Vorsichtig trat er näher und schob langsam seinen Kopf durch die Nebelschwaden. Als er klar sah, glaubte er, an seinem eigenen Atem zu ersticken. Direkt vor ihm lag eine Frau, die offensichtlich tot war und zudem übel zugerichtet aussah. Zumindest deuteten die Ratten und die ekligen Nacktschnecken, die sich über das Gesicht und die unbedeckten Gliedmaßen des bedauernswerten Geschöpfes hergemacht hatten, darauf, dass hier nichts mehr zu retten war. Und dass es sich dabei um eine Frau handelte, konnte Lodewig an deren Gewandung feststellen. Wieder stand er wie angewurzelt da. Er hatte zwar schon einige Leichen gesehen. Aber die hatten schön gefaltete Hände und allesamt ausgesehen, als würden sie schlafen – aber so etwas? Der eben noch ungezwungene Bursche war schlagartig zum jungen Mann gereift. Zumindest hatte er ungewollt einen großen Schritt in diese Richtung getan.
    Jetzt endlich hörte er Diederich nach ihm rufen. Nichts wie weg, dachte er und rannte seinem Bruder entgegen. Dadurch wollte er vermeiden, dass der Kleine die Tote sah. Lodewig war klug genug, um zu wissen, dass er die Sache sofort melden musste. Aber wie sollte er erklären, was er und sein Bruder am alten Leprosenfriedhof zu suchen hatten?
    »Mist! … Diederich!«, schrie

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