Die Pfade des Wanderers
Blätter abriß und sie im Rohzustand in den Mund schob.
Während er kaute, überkam ihn ein herrliches Gefühl himmlischen Friedens und Wohlbefindens, das sich durch den ganzen Körper zog. Die Augen schlossen sich halb, als er den wunderbaren Happen vertilgte, und er erkannte immer weitere Baumreihen, die die südlichen Berghänge bedeckten und bis zu den Gipfeln reichten.
Für einen Koalabären war schon ein einziger Hain solch großer Wunderbäume mehr, als er sich in einem Leben erhoffen konnte. Hier aber gab es einen ganzen Wald davon, der auf freiem Gelände wild wuchs. Das reinste Paradies, ein Schatz, nach dem man nur zu greifen brauchte. Er pflückte eine weitere Handvoll Blätter, diesmal verfuhr er etwas wählerischer, indem er nämlich die toten oder beschädigten Blätter erst entfernte, bevor er sich den Rest in den Mund schob. Dann kreuzte er die Beine und setzte sich auf den Ast, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich gegen den Stamm des Baumes, um beim Kauen in den blauen, blauen Himmel emporzuschauen.
Seine Eukalyptus-Trockenwürfel waren schon vor Monaten zu Ende gegangen. Seitdem war er dazu gezwungen gewesen, jedwedes Grünzeug zu essen, das er im Wald fand. Sein Magen hatte ständig rebelliert, und das Essen war ihm zu einer unangenehmen Pflicht statt zu einem Vergnügen geworden. Bohnen, Nüsse und Tannennadeln waren kaum besser als Müll.
Und nun saß er auf dem Ast eines Eukalyptusbaums, knabberte an seinen Blättern und hing Erinnerungen nach - und schmiedete Pläne. Denn alles, was er tun mußte, war nur, dieses Produkt zu verpacken und nach Hause zu befördern. Dann wäre er nach einem Jahr reich und unabhängig. Den ersten beiden folgte eine dritte Handvoll Blätter. Zum ersten Mal seit Monaten entspannte er sich.
Das ausgedehnte Panorama der endlosen wogenden Weide traf Dormas wie ein Schlag, als sie um eine Wegbiegung kamen.
Es hatte keinerlei Vorwarnung gegeben. Sie waren durch hohen Tannenwald marschiert, Sträucher umrundend und tief herabhängende Äste beiseite schiebend, nur um plötzlich, völlig unerwartet, auf offenes Grasland zu stoßen.
Das war keine normale Weide. Das sah man sofort. Es gab keine Bäume, die sie eingrenzten, überhaupt keine, und deshalb erstreckte sie sich auch endlos in sämtliche Richtungen, gönnte nicht einmal dem sich senkenden Himmel die Herrschaft über den Horizont. Und was noch unglaublicher war: Sie bestand nicht etwa aus Ried und anderen Gräsern, sondern aus vielen verschiedenen Kleearten. Es gab roten Klee und blaugrünen Klee, Löwenzahnklee und siebenblättrigen Klee, der einen nussigen Geschmack hatte, wenn man ihn langsam kaute. Die Luft war angefüllt von grüner Lieblichkeit.
Am unglaublichsten aber: daß Konsistenz und Höhe des Klees ein Hinweis darauf waren, daß dies das grasigste aller Grasländer war, eine jungfräuliche Weide. Nie hatten Zähne dieses vom Regen gereinigte Grün gerupft. Es war eine Weide, wie Grasende es sich nur in ihren Träumen erhoffen konnten.
Sie verfiel in Galopp, hielt nicht einmal an, als sie in das empfindliche Grün eingebrochen war. Es teilte sich um sie herum wie ein grünes Meer vor dem Bug eines Schiffs, bis sie keuchend langsamer wurde und sich schließlich vorbeugte, um mit den Zähnen den reichen Lohn zu ernten. Der erste Geschmack war von unbeschreiblicher Reinheit.
Hier war eine Spielwiese, wie sie es seit ihrer Fohlenzeit nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gegeben hatte, ein Ort der Ruhe, wo sie die Kräfte erneuern konnte, die sie auf der langen Reise von Ospenspri hierher verbraucht hatte. Sie legte sich im Klee nieder, sich wälzend und mit den Beinen ausschlagend, trunken vom bloßen Duft. Alles schmeckte kühl und frisch, als sei jeder Grashalm gerade eben vom ersten Morgentau geküßt worden. Die vereinzelten Kleeblüten waren eine willkommene zusätzliche Würze für jeden köstlichen Happen. Als sie zerdrückt wurden, schenkten sie der Luft ihr Frühlingsparfüm. Ein solcher Ort konnte nicht wirklich sein, konnte nicht existieren.
Doch er tat es, und sie hatte ihn ganz für sich selbst, es war der Lohn für ein Leben harter Arbeit und edler Selbstaufopferung.
Sorbl war auf Erkundungsflug unterwegs und mochte seinen Augen nicht trauen. Unter ihm wichen die Bäume plötzlich einer riesigen Fläche goldgetönter Flüssigkeit. Der See lag unmittelbar hinter dem Paß, den seine armen erdgebundenen Gefährten gerade mühsam durchquerten, im Tal
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