Die Pfeiler der Macht
verbummelte Jahre an der Universität leisten können, sondern mit neunzehn Jahren zu arbeiten beginnen müssen; deshalb lebte er heute bei seiner Tante, und deshalb besaß er keinen neuen Anzug, den er auf dieser Gesellschaft hätte tragen können. Er war ein Verwandter, gewiß, aber er war ein a r m er Verwandter: ein Stein des Anstoßes für eine Familie, deren Stolz, Selbstvertrauen und Stand auf ihrem Reichtum beruhte.
Keinem Pilaster wäre es jemals eingefallen, das Problem dadurch zu lösen, daß er Hugh Geld gab. Armut war die Strafe für den schlechten Geschäftsmann, und fing man erst einmal damit an, Versagern ihr Los zu erleichtern - nun, dann hatten diese doch keinen Anlaß mehr, sich anzustrengen. »Im Gefängnis schläft man auch nicht auf Daunen«, hieß es, wenn irgendwer auf die Idee kam, den vom Schicksal weniger Begünstigten ein wenig unter die Arme zu greifen.
Hughs Vater war das Opfer einer Wirtschaftskrise geworden, doch in den Augen der Pilasters spielte das keine Rolle. Sein Unternehmen hatte am 11. Mai 1866 Bankrott gemacht- ein Tag, der in Bankierskreisen nur als »Schwarzer Freitag« bekannt war. An jenem Tag war eine Maklerfirma namens Overend & Gurney Ltd. mit fünf Millionen Pfund Schulden zusammengebrochen und hatte viele Firmen mit sich in den Abgrund gerissen, darunter nicht nur die London Joint Stock Bank und die Baugesellschaft Sir Samuel Petos, sondern auch Tobias Pilaster & Co. Aber nach der Pilasterschen Philosophie gab es im Geschäftsleben keine Entschuldigung. Auch gegenwärtig herrschte wieder eine Wirtschaftskrise, die die eine oder andere Firma sicher nicht überleben würde. Doch die Pilasters kämpften rigoros darum, ihre Bank aus der Gefahrenzone herauszuhalten: Zahlungsschwache Kunden wurden rücksichtslos abgestoßen, die Kredite wurden verknappt und neue Geschäftsverbindungen nur dann eingegangen, wenn deren Erfolg außer Frage stand. Das Credo der Pilasters lautete: Oberste Pflicht eines Bankiers ist die Selbsterhaltung. Nun ja, dachte Hugh, auch ich bin ein Pilaster. Ich mag zwar nicht die typische Nase haben, aber von Selbsterhaltung verstehe ich eine ganze Menge. Manchmal, wenn er über das Schicksal seines Vaters nachsann, kochte die Wut in ihm hoch und verstärkte seine Entschlossenheit, es zum reichsten und angesehensten Mann der ganzen verdammten Sippe zu bringen. An seiner billigen Tagesschule hatte man ihm so nützliche Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften beigebracht, während sich sein verwöhnter Vetter Edward mit Latein und Griechisch herumplagte. Der Verzicht auf die Universität hatte ihm einen frühen Start ins Berufsleben ermöglicht. Niemals hatte sich Hugh Pilaster versucht gefühlt, einen anderen Lebensweg einzuschlagen, etwa Künstler, Parlamentsabgeordneter oder Geistlicher zu werden. Das Finanzwesen lag ihm. Der aktuelle Diskontsatz war ihm stets vertrauter als das aktuelle Wetter. Zwar war er entschlossen, nicht so aalglatt und heuchlerisch wie seine älteren Verwandten zu werden, aber an dem Berufsziel des Bankiers hielt er fest. Allerdings dachte er nicht allzuoft darüber nach. Meistens hatte er ohnehin nur Mädchen im Kopf.
Als er aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse hinaustrat, sah er Tante Augusta auf sich zusegeln, ein junges Mädchen im Schlepptau.
»Mein lieber Hugh«, sagte sie, »hier haben wir die liebe Miss Bodwin.«
Hugh stöhnte in sich hinein. Rachel Bodwin war ein großes intellektuelles Mädchen mit radikalen Ansichten. Hübsch war sie nicht mit ihrem stumpfbraunen Haar und den hellen, etwas zu eng beieinanderstehenden Augen, aber sie war lebhaft und interessant und steckte voller subversiver Ideen. Anfangs, als er noch neu in London war, hatte Hugh sie recht gern gehabt. Doch dann hatte Augusta sich in den Kopf gesetzt, ihn mit Rachel zu verheiraten, und das hatte die Freundschaft ruiniert. Vorher hatten sie sich ebenso heftig wie unbeschwert über alle möglichen Themen streiten können - Scheidung, Religion, Armut und Frauenstimmrecht. Doch Augustas Verkupplungsstrategie hatte ihnen die Unbefangenheit genommen. Wann immer sie sich seither begegneten, wechselten sie nur noch belanglose Worte und fanden alles furchtbar peinlich.
»Sie sehen ganz reizend aus, Miss Bodwin«, sagte er nun automatisch.
»Wie freundlich von Ihnen«, erwiderte Rachel in gelangweiltem Ton.
Augusta war bereits am Gehen, als ihr Blick auf Hughs Krawatte fiel. »Grundgütiger!« stieß sie aus. »Was ist denn das? Du siehst aus wie
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