Die Pfeiler der Macht
hatte vor, in den Park zu fahren. Vor dem Haus wartete schon ihr Landauer. Der Kutscher trug seine Perücke, und der livrierte Diener stand bereit, um hinten aufzusitzen. Augusta fuhr - wie alle Frauen und die männlichen Müßigganger der Oberschicht - fast täglich um diese Zeit in den Park. Sie behaupteten, sie brauchten frische Luft und Bewegung, doch in Wirklichkeit kam es ihnen vor allem darauf an, zu sehen und gesehen zu werden. Der eigentliche Grund für die regelmäßigen Verkehrsstaus lag darin, daß die Leute ihre Kutschen anhielten, um miteinander zu schwatzen, und damit die Straße blockierten.
Hugh vernahm die Stimme seiner Tante. Er erhob sich vom Frühstückstisch und ging in die Eingangshalle. Tante Augusta war, wie üblich, sehr elegant gekleidet. Sie trug ein violettes Tageskleid mit einem eng sitzenden Bolero und meterweise Rüschen darunter. Ihr Hut allerdings war ein Mißgriff: ein flaches Strohhütchen - auch
»Kreissage« genannt -, das kaum zehn Zentimeter im Durchmesser maß und über ihrer Stirn auf die Hochfrisur gesteckt worden war. Er entsprach der neuesten Mode und sah bei hübschen jungen Mädchen recht niedlich aus. Augusta war indessen alles andere als niedlich, weshalb das Hütchen an ihr einfach lächerlich wirkte. Oft unterliefen ihr solche Fehler nicht, und wenn, dann gewöhnlich nur deshalb, weil sie sich kritiklos der jeweils neuesten Mode unterwarf.
Sie sprach gerade mit Onkel Joseph. Der hatte die gequälte Miene aufgesetzt, die er häufig zur Schau trug, wenn seine Frau mit ihm redete. Halb abgewandt stand er vor ihr und strich sich ungeduldig über seinen buschigen Backenbart. Hugh fragte sich, ob die beiden sich noch mochten. Früher mußte es einmal so etwas wie Zuneigung zwischen ihnen gegeben haben, denn schließlich hatten sie Edward und Clementine in die Welt gesetzt. Inzwischen gingen sie nicht mehr sehr liebevoll miteinander um, doch manchmal verriet Augusta mit kleinen Gesten, daß ihr Josephs Wohlbefinden am Herzen lag. Wahrscheinlich lieben sie sich also immer noch, dachte Hugh. Als Hugh hinzutrat, nahm Augusta, wie üblich, keine Notiz von ihm und redete weiter: »Die ganze Familie macht sich große Sorgen«, sagte sie nachdrücklich, als hatte Onkel Joseph das Gegenteil behauptet.
»Es konnte zu einem Skandal kommen.«
»Aber die Situation - was immer man darunter verstehen mag -besteht doch schon seit Jahren, und kein Mensch hat sich jemals darüber aufgeregt.«
»Weil Samuel nicht Seniorpartner ist. Ein gewöhnlicher Mann kann viele Dinge tun, ohne daß es auffallt. Aber der Seniorpartner des Bankhauses Pilaster ist eine Persönlichkeit, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht.«
»Gewiß, aber so dringend ist das alles ohnehin nicht. Onkel Seth lebt schließlich noch, und so, wie es aussieht, bleibt er uns auch noch auf unabsehbare Zeit erhalten.«
»Das weiß ich«, sagte Tante Augusta, und ihr Tonfall verriet kaum verhüllte Enttäuschung. »Manchmal wünschte ich mir ...« Sie hielt inne, um nicht zuviel von ihrer Gesinnung preiszugeben. »Früher oder später wird er die Zügel doch weiterreichen müssen, und niemand weiß, ob es nicht vielleicht schon morgen soweit ist. Cousin Samuel soll nicht so tun, als gäbe es keinen Anlaß zu gravierenden Bedenken.«
»Mag ja sein«, sagte Joseph, »aber wenn er's doch tut, läßt sich doch kaum etwas dagegen unternehmen, oder?«
»Vielleicht sollten wir Seth unsere Bedenken nicht länger vorenthalten.«
Hugh fragte sich, wieviel der alte Seth über das Privatleben seines Sohnes wußte. Wahrscheinlich kannte er die Wahrheit, war aber nicht bereit, sie zu akzeptieren, nicht einmal vor sich selbst. Joseph war beunruhigt. »Das möge der Himmel verhüten.«
»Es wäre gewiß sehr unerfreulich«, behauptete Augusta mit unverfrorener Heuchelei.
»Aber wenn Samuel seine Ansprüche aufrechterhält, wirst du ihm beibringen müssen, daß uns nichts anderes übrigbleibt, als seinen Vater ins Vertrauen zu ziehen. Und in diesem Fall müssen alle Fakten auf Seths Tisch.« Hugh konnte nicht umhin, ihr skrupelloses Intrigenspiel zu bewundern. Augustas Botschaft an Samuel war unmißverständlich: Gib deinen Sekretär auf, oder wir geben deinem Vater zu verstehen, daß sein Sohn - mehr oder minder - mit einem Mann verheiratet ist.
In Wirklichkeit scherte sie sich natürlich keinen Pfifferling um Samuel und dessen Sekretär. Es ging ihr einzig und allein darum, Samuels Ernennung zum Seniorpartner zu verhindern
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