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Die Pfeiler des Glaubens

Die Pfeiler des Glaubens

Titel: Die Pfeiler des Glaubens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildefonso Falcones
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noch lebhaft an jeden einzelnen Augenblick erinnern – wie er vierzehn Jahre zuvor, erschöpft und in Lumpen gehüllt, zusammen mit Tausenden anderen Morisken auf genau diesem Weg nach Córdoba gezogen war. Als wäre es gestern gewesen, spürte er wieder das Gewicht der geschwächten Alten, die er damals tragen musste, und hörte die Klagen der Kranken, der Mütter und ihrer Kinder.
    Recht schroff wies er seine Begleiter an, in der Abtei von Alcalá la Real zu übernachten, deren Kirche nach all den Jahren immer noch nicht fertiggestellt war.
    »Wir könnten noch ein Stück weiterreiten«, beschwerte sich Don Sancho. »Es ist Frühjahr und somit länger hell.«
    »Das weiß ich«, antwortete Hernando, der angespannt und sehr aufrecht auf Volador saß. »Aber wir machen trotzdem hier Halt.«
    Der Herzog hatte Don Sancho zu Hernandos Begleiter auserkoren – jenen Hidalgo, der noch bis vor Kurzem sein Lehrmeister gewesen war. Dabei hätte sich Hernando am liebsten allein auf den Weg gemacht. Don Sancho verzog übellaunig das Gesicht, und die vier bewaffneten Diener, die sie begleiteten und für die Maultierkolonne mit dem Gepäck zuständig waren, tauschten missmutige Blicke aus.
    Die kleine Gesandtschaft bezog ihre Zimmer in der Abtei, und noch vor Sonnenuntergang befahl Hernando, Volador wieder aufzuzäumen. Unter den neugierigen Blicken der Bewohner ließ er die Festung und die Abteikirche hinter sich, ritt die Anhöhe hinab, und schon bald erstreckten sich die weitläufigen Anbaugebiete vor ihm. In der Ferne konnte er die Gipfel der Sierra Nevada ausmachen. Als er aufs freie Feld kam, gab er Volador die Sporen. Das Pferd bäumte sich erfreut auf, als wäre es für den Galopp dankbar, den ihm sein Reiter nach den eintönigen Tagesstrecken zugestand, in denen es sein Tempo an das der gemächlichen Maultiere anpassen musste.
    Hernando erkannte die Stelle sofort wieder, wo sie während ihrer Vertreibung nach Córdoba übernachtet hatten. Doch den kleinen Bewässerungsgraben, an dem seine Mutter Humams Leichnam damals gewaschen hatte, konnte er nicht auf Anhieb finden. Also ritt Hernando über die Felder, den Blick starr auf die Kanäle gerichtet. Sie hatten das Grab des Säuglings nicht richtig kennzeichnen können. Aber zumindest hatten sie den Jungen in jungfräulicher Erde begraben, auch wenn er anstatt in ein Leichentuch nur in Fatimas trauriges Schweigen und Aischas monotone Litanei gehüllt war.
    Schließlich meinte Hernando jenes Rinnsal entdeckt zu haben, das noch genauso verlief wie damals. Das war er ihr schuldig. Das war er Fatima schuldig – und seinen eigenen Kindern, die er nicht hatte begraben können. Und das war er sich selbst schuldig. Das Grab dieses Säuglings war die letzte Verbindung zu seiner Frau und seinen Kindern, die wie Humam aus Fatimas Leib gekommen waren. Hernando stieg ab und blieb vor dem kleinen Steinhaufen stehen, den der Lauf der Zeit nicht verändert hatte. Er war sich sicher, dass hier die sterblichen Überreste von Fatimas Sohn ruhten. Er blickte sich nach allen Seiten um: Niemand war zu sehen. Er band Volador am Buschwerk fest und ging zum Bewässerungskanal, um sich in aller Ruhe zu waschen. Von der untergehenden Sonne war nur mehr ein rötlicher Schimmer am Horizont zu sehen. Da legte Hernando seinen Umhang auf die trockene Erde und kniete nieder. Doch als er mit dem Gebet beginnen wollte, schnürte es ihm die Kehle zu, und er brach in Tränen aus. Er schluchzte und konnte die Suren nur mühsam rezitieren.
    Dann stand er auf und zog unter seinen Gewändern ein mit Safrantinte geschriebenes Schriftstück hervor: den Totenbrief für den Verstorbenen.
    Er begrub das Blatt dort, wo er das Köpfchen des Jungen vermutete.
    »Bei deinem Tod konnten wir dir diesen Brief nicht mitgeben«, flüsterte er. »Gott wird das verstehen. Erlaube mir, dass ich darin die Gebete für deine Mutter einschließe – und für deine Geschwister, die du nicht mehr kennenlernen konntest.«
    Seit Lanjarón, wo Hernando beim Anblick des verfallenen Kastells an den dort in der Erde ruhenden Säbel des Propheten denken musste, wirkten alle Ortschaften entvölkert. Es waren zu wenige Menschen aus Galicien und Kastilien gekommen, um das Gebiet nach der Vertreibung der Morisken wiederzubesiedeln. Ein Viertel der Dörfer blieb unbewohnt. Auf seinem Ritt durch das Tal – die Bergriesen der Sierra Nevada zu seiner Linken und die Gipfel der Sierra Contraviesa zu seiner Rechten – spürte Hernando ein

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