Die Pfeiler des Glaubens
zum Altar zu führen, damit sie den verhassten Kuchen äße. Doch der Zulauf der Gläubigen war so gewaltig und die Schlangen vor den Beichtstühlen so lang, dass niemandem Aischas stiller Widerstand auffiel. Dem Richter genügte, dass sie in der Kirche war. Dann mussten sich alle Morisken aus dem Santiago-Pfarrbezirk zwischen der Kirche und dem nahe gelegenen Kloster Santa Clara an der Calle del Sol entlang aufstellen. Aischa stand zwar bei ihren Nachbarn, war aber gänzlich in sich versunken. Nun galt es, die vielen Stunden abzuwarten, bis die Bittprozession auf ihrem Rückweg zur Kathedrale auch durch das Santiago-Viertel kam.
Aischa sprach mit niemandem. Seit Tagen verhielt sie sich so, selbst in der Werkstatt ließ sie stillschweigend die Rügen des Meisters Juan Marco über sich ergehen, wenn sie die Seidenfäden falsch aufgespult oder die Farben oder Garnlängen verwechselt hatte. Bei der Arbeit dachte sie ohne Unterlass an Fatima und Shamir. Fatima hatte es geschafft! Sie hatte Ibrahims Erniedrigungen all die Jahre standgehalten. Fatimas Willensstärke und Beharrlichkeit hatten ihr eine Rache ermöglicht, auf die Aischa nicht einmal im Traum gekommen wäre. Fatima sprach in ihrem Brief von einem Paradies. Fatima lebte in einem Paradies. Was war im Vergleich dazu aus ihrem eigenen Leben geworden? Sie war alt, krank und allein. Aischa hatte das Gefühl, dass ihre Nachbarn sie am liebsten loswerden würden. Sie aßen ihr das Hirsebrot, den Kuchen und das Mandelgebäck weg, doch keiner von ihnen bot ihr im Gegenzug etwas von ihren Speisen an. Noch dazu hatte sie inzwischen ohnehin Mühe beim Essen. Nicht nur das Haar fiel ihr büschelweise aus, ihr fehlten auch mehrere Zähne, und die harten Brotkanten, die die Nachbarn nach dem Abendessen übrig ließen, musste sie erst zerkleinern. Für welche Sünden bestrafte Gott sie so hart? Der eine Sohn verriet seine muslimischen Brüder, und der andere lebte weit weg in Tetuan. Und ihre anderen Kinder waren ermordet oder versklavt worden. Gott! Warum? Warum nahm er nicht auch sie zu sich? Sie wollte sterben! Sie spürte den Tod jede Nacht neben sich, wenn sie auf dem kalten, harten Boden im Vorraum lag, aber er nahm sie nie mit. Gott wollte sie nicht aus ihrem Elend erlösen.
Als die Christusfigur aus der Kathedrale an ihr vorübergetragen wurde, schmerzten sie die Beine schon seit Stunden. Die Morisken ringsum fielen auf die Knie. Jemand zog sie am Rockzipfel, doch sie gab nicht nach. Sie blieb stumm stehen. Schließlich kamen die Büßer durch die Straße. Sie hatten sich inzwischen mit Peitschen und Geißeln die Oberkörper blutig gerissen – für die gläubigen Christen am Straßenrand der Beweis ihrer inbrünstigen Frömmigkeit. Ergriffen stimmten sie am Straßenrand in die Wehlaute und Schmerzensschreie der Prozessionsteilnehmer ein. Die Nonnen im Kloster Santa Cruz sangen ihr düsteres Miserere und mussten immer lauter werden, um den zunehmenden Lärm auf der Straße zu übertönen.
»Miserere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam«, klang es durch die Calle del Sol, und Abertausende schlossen sich dem Bußgesang an.
Aischa zeigte keinerlei Interesse am Zug dieser Elendigen. Da erkannte sie in der Menge der Büßer plötzlich einen jungen Mann mit einem gewaltigen Holzkreuz über der nackten Schulter. Sein Rücken war blutüberströmt und das Gesicht von den Qualen verzerrt. Nein! Es war ihr eigener Sohn! Sein Anblick erinnerte sie an die unzähligen Christusdarstellungen, die allerorts in den Kirchen und an den Straßenaltären der Stadt Córdoba zu sehen waren.
»Nein!«, schrie sie. Der Bäcker drehte sich zu ihr um und blickte in ihre vor Zorn blitzenden Augen. »Nein!«, schrie sie wieder. Ein anderer Moriske wollte sie zum Schweigen bringen. »Allahu akbar, Ibn Hamid!«, kreischte sie wütend und riss sich mit aller Kraft vom inzwischen panischen Glaubensbruder los. Ein Büttel eilte auf Aischa zu.
»Et secundum multitudinem miserationum tuarum, dele iniquitatem meam«, klagten die Nonnen vom Kloster Santa Cruz.
»Hernando, hör mich an! Fatima lebt! Und die Kinder! Komm zurück! Es gibt keinen anderen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Ges…«
Sie konnte das muslimische Glaubensbekenntnis nicht zu Ende sprechen. Der Büttel stürzte sich auf sie und brachte sie mit einem schweren Fausthieb zum Schweigen, bei dem sie weitere Zähne einbüßte.
Hernando war halb wahnsinnig vor Schmerz, und zwischen Wehlauten und gequälten Schreien
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