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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Davies
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Künstlers die Bleistiftstriche verwischt hatte. Beim Anblick des Papiers, auf dem er gezeichnet hatte, schien jener heiße Nachmittag plötzlich sehr nahe, der Vogel auf dem Bild sehr real.
    »Der Vogel!«, hauchte Katya.
    »Ja, das ist er. Der, den sie an dem Tag damals gefangen haben. Der in Joseph Banks’ Sammlung gelandet ist. Wir wissen weder, wie viele es davon gab, noch, wie sie gelebt haben. Wir wissen gar nichts. Wir kennen nur dieses eine Exemplar.«
    Nachdenklich saßen wir vor dem Bild, bis es dämmrig im Raum wurde. Katya sah auf die Uhr.
    »Ich muss los«, sagte sie, »ich hab noch ein Tutorium.« Sie zog ihren Mantel an. »Wir sollten...« Sie verstummte. »Ach, egal. Bis später.«
    An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte.
    Danach fiel es mir schwer, mich wieder zu konzentrieren. Ich bat Geraldine, das Bild zurückzubringen, und wandte mich wieder dem Bücherstapel zu, noch immer neugierig auf die verschollene Geliebte. Die folgenden zwanzig Minuten ergaben noch einige weitere Hinweise, die ich für Katya fotokopierte, bevor ich ging. Ihren Namen aber hatte ich nicht gefunden. Und die Kopien bekam Katya eine ganze Weile nicht zu sehen, denn als ich nach Hause kam, fand ich im Flur einen unbeschrifteten Umschlag vor, der unter der Tür durchgeschoben worden war. Zwei Dinge fielen mir an seinem Inhalt auf: zum einen, dass er anonym war, und zum anderen, dass er stark danach aussah, als könnte es sich um Andersons geheimnisvollen Anhaltspunkt handeln.
     
     
    Das Messen der Zeit auf einer langen Seereise ist ein Rätsel mit mehr als einer Dimension. Die Längengradbestimmung blieb Cook überlassen, sie war eine Frage von Glasen und gegisstem Besteck, etwas, das bei Windstille in Logbüchern und an den gekerbten Stäben der Matrosen festgehalten wurde. Für Banks war die Zeit ein Rätsel anderer Art. Die Tage vergingen schnell, und ehe er sich’s versah, war ein Jahr um. Jeder Tag wurde in seiner Erinnerung einfach auf die vorhergehenden geschichtet, bis die Monate auf See wie eine Bergkette zwischen ihm und der Heimat aufragten. Dennoch hafteten seine letzten Tage in England noch frisch in seinem Gedächtnis: die Wälder um Revesby, Harriets Kopf an seiner Schulter, London, das er bei Tagesanbruch verlassen hatte, Plymouth bei Sonnenuntergang. Es war, als zeichnete jedes neue Abenteuer diese Bilder schärfer, und sie wurden zu seinem Ziel, den Lichtern, die ihm in sternenloser Nacht den Weg wiesen. Waren die Obliegenheiten der Reise erfüllt, würde jene Welt auf ihn warten, wie sie es immer getan hatte, grün und wohlbehalten und für ihn bereit.
     
    In Revesby maß sie die Zeit auf andere Weise: am sich verfärbenden Laub, am Herunterbrennen der Kerzen, am langsamer werdenden Atmen ihres Vaters. Während Banks’ Tage schnell dahineilten, schienen die ihren stillzustehen, einer ging unmerklich in den anderen über, bis ihrer aller Masse auf ihren Erinnerungen zu lasten begann. Die klaren Umrisse ihrer Tage in den Wäldern verschwammen unter dem Gewicht, und um sie zu bewahren, tat sie zweierlei. Bei Tage fuhr sie fort zu zeichnen, auch wenn das Licht immer früher schwand, und jeder Strich machte die Wälder für sie realer. Bei Nacht, zusammengerollt unter ihren Laken, tat sie dasselbe mit ihren Erinnerungen an ihn, holte sie eine nach der anderen hervor, retuschierte Farbe und Linien einer jeden, bis sie als sonnenbeschienene Porträts im Dunkel hingen.
     
    Der Herbst nach Banks’ Rückkehr währte kurz, und der Winter kam früh. Einen Tag im Oktober gab es indessen, an dem die Sonne ein letztes Mal den Sommer zu beschwören schien, und sie ging früh aus dem Haus, um einen letzten warmen Tag im Wald zu verbringen. Sie hatte gehofft, unbemerkt durch das Dorf huschen zu können, doch bald sah sie, dass sie nicht die Einzige war, die das schöne Wetter ins Freie gelockt hatte. Auf dem Wiesenpfad, der zum Wald führte, standen zwei Gestalten, und als sie ihrer ansichtig wurde, verhielten sie ihren Schritt. Sie erkannte Banks’ Schwester Sophia und Miss Taylor, die Tochter des Arztes, die auf dem Weg von der Abtei ins Dorf waren.
    Sie sah sie innehalten, ein Zögern, in das die Leute in Revesby bei ihrem Anblick reflexartig verfielen; mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Wollten die beiden ins Dorf, blieb ihnen keine andere Wahl, als weiter auf sie zuzugehen, und während sie sich für die Begegnung wappnete, breitete sich Kälte in ihrem Innern aus. Im Näherkommen heftete

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