Die Pforte
Gefahr wie diese konnte Paige unmöglich vorhergesehen haben.
Zehn Sekunden? Blieb ihm überhaupt noch so viel Zeit? Zehn Sekunden auf den Knien im Dreck, in denen er mit der Frage hadern konnte, ob er wohl etwas spüren würde, wenn ihm die Kugel den Schädel zerschmetterte?
Was hatte er schon zu verlieren.
Er nahm die Hand vom Gewehrgriff, zog den durchsichtigen Schlüssel aus der Jackentasche und stieß ihn in das Erdloch hinab, quetschte ihn förmlich gegen das Flüstern, während er es aus dem Erdreich hob.
Licht strahlte von dem Ding ab, leuchtend blau und so wunderbar funkelnd, dass ihm neben seiner heftig pochenden Furcht noch ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss:
Das war ein Stern, irgendwie hielt er hier das Herz eines Sterns in der Hand
…
Dann war auch dieser Gedanke fort, davongerissenwie ein Fetzen Papier im Düsenstrahl, und er hörte eine Stimme in seinem Kopf, die noch schöner war als das blaue Licht, und ihm wurde klar, dass er diese Stimme kannte, obwohl er sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte: Emily Price, als sie und er siebzehn waren. Emilys Stimme im schwülen Dunkel des Baumhauses im Garten ihrer Eltern, an dem Abend, als sie zu ihm sagte, dass es sich richtig anfühlte, dass jetzt der Moment gekommen war –
Aber von solchen Dingen redete sie jetzt nicht.
« Hinter dir
», sagte sie,
« einen halben Meter links neben der Zwillingskiefer. Er zieht gerade. Los. LOS .»
Travis schnellte herum, riss dabei das Gewehr in seiner Rechten nach vorn und richtete es auf die Zwillingskiefer, die etwa fünf Meter vor ihm wie ein V gewachsen war.
Er hörte einen Mann nach Luft schnappen – überrascht und auch wütend – und sah im selben Moment das Unmögliche: eine Pistole mit Schalldämpfer, die auf einmal, wie aus dem Nichts hervorgleitend, sichtbar wurde.
Travis feuerte.
Das schwere Gewehr hatte einen ungleich stärkeren Rückstoß als die M1 6-Gewehre , der ihn fast umgehend von seinem Ziel weglenkte; aber das spielte keine Rolle mehr. Sogar über das Knattern des Dauerfeuers hörte er den Killer aufschreien und sah, wie die Pistole seitlich in hohem Bogen durch die Luft flog. Im nächsten Augenblick bog sich der unterste Ast der Zwillingskiefer heftig nach unten. Es sah aus, als würde er sich selbst zu Boden drücken.
Travis nahm den Finger vom Abzug. Stille. Dann hörte er den Mann winseln und um Atem ringen.
Travis sah die Kugel in seiner Hand an. Das blaue Licht pulsierte jetzt im gleichen Rhythmus wie sein eigener, wild pochender Puls.
Emilys Stimme gurrte in seinem Kopf, und er hörte sie kichern.
« Du hast ihm einen Schmerz-Donut verpasst, nicht wahr? Eine ganze Schachtel voll hast du ihm verpasst, mit Streuseln drauf und Kirschfüllung
.»
Travis merkte, dass ihm das Denken immer schwerer fiel. Ihm war klar, dass diese Stimme überhaupt nicht Emily war und dieses Ding nicht das Geringste mit ihr zu tun hatte. Doch auch diese Gewissheit verflüchtigte sich zunehmend, mit jeder Sekunde, während er das Ding in der Hand hielt. Er merkte, wie sein Denken immer unklarer wurde, unschärfer, sich auflöste wie bildliche Einzelheiten in grellem Licht.
Jetzt sollte er es wohl besser fallen lassen. Ganz schnell fallen lassen, wie Paige es ihm eingeschärft hatte.
Er öffnete seine Hand –
Das Gewehr landete mit einem Scheppern auf der Baumwurzel zu seinen Füßen. Erst einen Atemzug später begriff er, welcher Fehler ihm unterlaufen war.
« Schatzi, du willst mich doch nicht etwa fallen lassen, oder? »
Nein, jetzt, wo er darüber nachdachte, wollte er sie wirklich nicht fallen lassen.
Sie? Es.
« Stell dir ruhig vor, ich wäre ein Mädchen. Mir ist das einerlei. Es hat mich nicht mal gestört, all die Zeit schon beim falschen Namen genannt zu werden. Eines Tages verrate ich dir meinen richtigen Namen, versprochen. Er ist wesentlich cooler als ‹Flüstern› .»
Mit jedem Augenblick, mit jedem Herzschlag der Kugel, lullte ihn die Stimme tiefer ein. Lullte ihn ein und versetzte ihn zurück in jene Nacht, in jene Stunden, die ihm lange Zeit als die besten seines Lebens unvergessen bleiben sollten.
« Na also
.»
Wie Emily ihn voll ungeduldigem Verlangen küsste, wie ihr Atem sich mit seinem vermengte und sie sich nur kurz von ihm löste, um sich ihr T-Shirt über den Kopf zu ziehen.
« Du hast ihn mit drei deiner zwölf Schüsse getroffen, nur falls es dich interessiert
.»
So wunderschön. Was sie sagte, darauf kam es jetzt nicht mehr an. Die Stimme allein
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