Die Pforte
einem Eckfenster, von dem aus sowohl der Fluss als auch die Stadt zu überblicken war. Über ihre Schulter hinweg sah Travis, was sich da draußen gerade abspielte.
Paige sagte nichts. Mit Worten ließ sich das auch nicht beschreiben.
Die Fenster der Gebäude im Umkreis, in denen eben noch der schwache Schein von Taschenlampen geleuchtet hatte, waren jetzt dunkel. Und zwar, weil die Taschenlampen gerade aus den Haustüren unten an der Straße zum Vorschein kamen, in den Händen ihrer Besitzer, und mit ihren Lichtkegeln flackernde Schneisen in den Nebel schlugen. Weil die Leute im Laufschritt über die Straße hasteten, auf das Haus an der Theaterstraße sieben zu. Travis spähte den Fluss hinauf und sah, dass sich überall dasselbe abspielte, von Häuserblock zu Häuserblock, so weit sein Blick reichte. Sogar auf der zwei Meilen entfernten E 41, von der immer mehr Scheinwerferpaare auf Zubringerstraßen abbogen und mit Vollgas in Richtung Innenstadt gefahren kamen. In Richtung Theaterstraße.
STROPHE V
EINES SPÄTEN ABENDS IM OKTOBER 1992
Mr. und Mrs. Chase haben beide aufgehört, an ihren Fesseln zu zerren. Als hätten sie sich mit allem abgefunden, was ihnen jetzt bevorstehen mochte, und dafür hasst Travis sie noch mehr. Er will, dass sie Angst haben, ebenso schlimme Angst, wie Emily sie vor ihrem Tod ausgestanden haben dürfte.
Durch die Lamellen der Fensterläden dringt flackerndes rotes und blaues Licht, die Blaulichter der Polizeifahrzeuge draußen vor dem Haus. Bisher haben sie noch nicht versucht hereinzukommen. In den letzten zehn Minuten war immer mal wieder das Schnattern eines Megaphons zu hören, und das Telefon hat dreimal etwa eine halbe Minute lang geklingelt, aber Travis hat es nicht weiter beachtet.
Er hat auch noch kein einziges Wort mit seinen Eltern gewechselt.
Weil er nur einen Wunsch hat: Sie sollen einfach nur hier sitzen und auf ihren Tod warten.
Sie sollen dasselbe fühlen, was auch Emily gefühlt hat, und zwar so lange wie möglich, ehe er sie abknallt. Die Schritte des SWA T-Teams auf dem Steinboden draußen im Flur, das wird das Letzte sein, was sie je auf Erden zu hören bekommen. Möglicherweise wird das auch das Letzte sein, was Travis je zu hören bekommt, und das ist in Ordnung. Falls er überlebt und den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen muss, ist das auch in Ordnung, weil er das mehr als verdient hat. Die einzige Gerechtigkeit jedoch, die Emily auf Erden je widerfahren kann,
wird in der nächsten Viertelstunde in diesem Zimmer vollzogen werden.
Sie hätte so viel mehr verdient, natürlich. Sie hätte es verdient, am Leben zu sein, vierundzwanzig Jahre jung und rundum bezaubernd, mit einer Zukunft, in der sich all ihre einfachen Wünsche erfüllen: ein Haus, Kinder, ein paar Katzen, die sich im Sonnenlicht auf dem Wohnzimmerteppich räkeln. Rache ist für all das bloß ein blasser, kränklicher Ersatz, aber mehr kann Travis nicht mehr für sie tun, also wird er ihr zuliebe Rache nehmen.
Vorne im Wohnzimmer ist Mannys Geschrei inzwischen in ein Wimmern übergegangen, und seit einer Minute hört es sich ganz so an, als würde er langsam an etwas ersticken – Blut vermutlich. Das Geräusch dabei geht nicht spurlos an Travis’ Mutter vorüber, es gelingt ihr nicht, ihre unbeteiligte Miene weiter aufrechtzuerhalten. Sie ist jetzt gezwungen, ihrem eigenen Tod ins Auge zu schauen. Wirklich ins Auge zu schauen.
Wenn er an einem Gespräch mit ihnen interessiert wäre, würde Travis ihnen die Frage stellen, ob sie je ernsthaft erwartet haben, dass es anders enden würde als so wie jetzt. Sie haben ihn zu dem geformt, was er ist: ein Mensch ohne Gewissen. Ein Polizist, der eigentlich nur die Aufgabe hat, sie vorab über gegen sie gerichtete polizeiliche Maßnahmen auf dem Laufenden zu halten. Ein Mensch ohne jede Moral. War ihnen nicht klar, dass ihre Kreatur sich gegen sie wenden würde, nach dem, was sie verbrochen haben?
Mannys Erstickungsanfall steigert sich zu krampfhaftem Röcheln und Würgen: Er versucht mit letzter Kraft, die ihn erstickende Flüssigkeit aus der Luftröhre zu befördern. Doch dazu reicht seine Kraft nicht mehr
aus, und gleich darauf dringt aus dem Wohnzimmer kein Laut mehr herüber. Mrs. Chase kann sich nicht länger beherrschen und bricht in Tränen aus. Mr. Chase wirft ihr einen angewiderten Blick zu, und Travis erkennt schlagartig den untergeordneten Handlungsstrang, der soeben an seinem Ende angelangt ist. Am liebsten würde
Weitere Kostenlose Bücher