Die Pforte
Ereignisse in Zürich erst so richtig zu Bewusstsein kamen. Während des nächtlichen Gemetzels hatte er das schiere Ausmaß der Gewalt gar nicht überblicken können. Erst jetzt, rückblickend, stand es ihm immer deutlicher vor Augen, so wie auch die Berge von Leichen, die sich in den Straßen rund um das Gebäude in der Theaterstraße sieben türmten.
Zweimal während des Flugs wurde ihm so speiübel, dass er sich auf der Bordtoilette, die er jedes Mal nur mit knapper Not erreichte, erbrechen musste. In den Räumen, an denen er im Flugzeugkorridor vorbeikam, saßen, immer noch in voller Montur, aber jetzt unbewaffnet, die Kommandoangehörigen, die ebenfalls keinen Schlaf fanden. Manche stützten den Kopf in die Hände, andere starrten aus den Fenstern, hinab auf den schwarzen Ozean und in den pastellfarbenen Himmel. Es war ein ergreifend schöner Anblick. Vielleicht schöpften sie aus der Betrachtung dieser Schönheit ja ein wenig Trost.
Paige blieb ebenfalls wach. Über Europa und dem Atlantik verfiel sie in tiefes Schweigen. Sie weinte zwar nicht, aber Travis bemerkte, dass ihre Hände mitunter zitterten. Später folgte er dem Beispiel der anderen, starrteaus dem Fenster und blendete seine Gedanken aus, so gut es ging. Er war gerade in die Betrachtung Grönlands versunken, wo auf dem Schnee ein Abglanz der Morgenröte schimmerte, als Paige ihr Schweigen brach.
«Ich habe mich geirrt, neulich.» Dem Klang ihrer Stimme nach hatte sie anscheinend doch noch geweint. «Was ich über das Portal gesagt habe. Dass wir uns, verglichen mit denen auf der anderen Seite der Pforte, noch auf dem Stand des Javamenschen befinden.» Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. «Im Grunde sind wir eher wie Ameisen. Ameisen, die aus Versehen einen Tunnel in einen Tank voller Chlor unter einer chemischen Fabrik gegraben haben. So wenig Ahnung haben wir von diesem ganzen Mist. So gefährlich ist das alles. Und so unbedeutend sind wir für die Wesen, die sich auf der anderen Seite befinden. Ungefähr so unbedeutend wie die Ameisen für die Fabrikeigentümer. Wahrscheinlich wissen die noch nicht mal, dass es uns gibt. Und wenn sie von uns wüssten, wären wir ihnen vermutlich völlig egal.»
Inzwischen befanden sie sich über North Dakota, wo die Landschaft im selben morgendlichen Dämmerlicht dalag wie Stunden zuvor Zürich, als sie dort abgeflogen waren. Beide, Travis und Paige, hatten seit Stunden kein Wort mehr gesagt.
Paiges Handy klingelte. Es war Crawford. Tangent hatte Ellis Cooks Tochter ausfindig gemacht, die bei seinem vermeintlichen Selbstmord dabei gewesen war. Die junge Frau hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Vater gehabt. Möglicherweise wusste sie ja irgendetwas. Augenblicklich befand sie sich an Bord eines Flugzeugsmit Kurs auf Border Town, wo sie eine Stunde vor ihnen landen würde.
Travis ging gerade wieder das Flüstern durch den Kopf, ein beunruhigendes Thema zwar, aber wenigstens eine nicht unwillkommene Ablenkung. Paige beendete das Telefonat und schaute ihn an, und es kam ihm vor, als sähe er in ihren Augen dieselbe Empfindung.
Nach kurzem Schweigen sagte sie: «Haben Sie schon mal von einer Geschichte mit dem Titel ‹Die Verabredung in Samarra› gehört?» Sie klang noch immer müde und ausgelaugt.
«Nein.»
«Wer der Autor ist, weiß ich nicht mehr. Einer dieser Texte, die man im Grundstudium in Englisch liest. Es geht um einen Diener, der auf den Marktplatz geht, und dort begegnet er dem Tod, und der Tod schaut ihn drohend an. Der Diener läuft eilig zurück zu seinem Herrn und sagt: Lasst mich Euer Pferd borgen, ich will nach Samarra reiten, damit mich der Tod nicht finden kann. Der Herr lässt ihn auch ziehen, geht später selbst auf den Markt, begegnet dort dem Tod und fragt ihn: Warum hast du meinen Diener heute Morgen drohend angesehen? Und der Tod antwortet: Drohend? Nein, nein, ich war bloß überrascht, ihn hier zu sehen. Weil ich nämlich heute Abend eine Verabredung mit ihm habe, in Samarra.»
Sie schaute an ihm vorbei aus dem Fenster, auf die eben erwachende Landschaft unter ihnen.
«So kommt mir das hier auch vor», sagte sie schließlich. «Egal, was wir jetzt noch unternehmen, egal, welchen Weg wir einschlagen, am Ende wartet dort schon das Flüstern auf uns. Wenn es Lottozahlen vorhersagenkann, kann es mit Sicherheit auch jeden unserer Schritte vorhersagen. Selbst wenn wir uns sagen, ‹Tja, genau das würde es vorhersagen, also tun wir doch einfach das Gegenteil›, müssen
Weitere Kostenlose Bücher