Die Pforten der Ewigkeit
von den Dächern!«
Ein weiterer Soldat brüllte auf, drehte sich einmal um seine Achse und kam ins Stolpern. Ein Armbrustbolzen war durch sein Gesicht gefahren, hatte die Wange durchbohrt und ragte auf der anderen Seite so weit heraus, dass die Befiederung in der Einschlagstelle steckte. Er heulte auf wie ein Tier und rannte mit wild fuchtelnden Armen davon, und das löste die Panik aus. Alles begann zu laufen, eine trampelnde, brüllende Herde, die nur ein Ziel hatte: weg von den tödlichen Geschossen. Der Strom ergoss sich die Klostergasse hinunter. Soldaten und Geiseln rannten gleichermaßen nebeneinander her. Wer fiel, wurde umgestoßen, in den Schlamm getreten, niedergetrampelt.
»Das sind die entkommenen Wizinstener!«, schrie Walter.
»Nein!«, schrie Rogers zurück. »Zu wenige Schüsse. Zu viele Treffer. Das ist nur ein Mann, der mit der Armbrust umzugehen weiß!«
Es musste der Notar sein. Meffridus schien der wilden Flucht über die Dächer zu folgen, denn bis Rogers und die anderen, die am Ende der Menge von ihren Bewachern gestoßen und geschubst wurden, beim Platz vor dem Klostertor angekommen waren, waren ein weiterer Soldat und eine Frau getroffen und von den Fliehenden in den Schlamm der Gasse getrampelt worden. Rogers, der mehr vor Angst als vor Anstrengung keuchte, ertappte sich dabei, wie er Stoßgebete flüsterte, dass Meffridus nicht auf Rudolf schoss. Der Graf musste vorausgesehen haben, was Meffridus tun würde, sonst hätte er sich nicht die beiden menschlichen Schutzschilde aufs Pferd geholt. Rogers hasste ihn mit solcher Inbrunst, dass er ihm mit bloßen Händen die Gliedmaßen ausgerissen hätte, hätte er ihn in die Finger bekommen. Gabriel rannte neben Rudolfs Pferd und scheuchte die kreischenden Nonnen vor sich her. Die Menge galoppierte durch den Klostergarten und zwischen dem alten Wachturm und der Benediktinerruine hinaus ins Freie, wo der Wind den Regen in Böen gegen sie trieb. Dutzende rannten einfach in die Dunkelheit hinein, andere ließen sich im Klostergarten hinter Bäumen und Gebüsch fallen. Die meisten waren noch in der Stadt verloren gegangen. Niemand achtete darauf. Soldaten wie Gefangene hatten nur den einen Gedanken: nicht von den Geschossen getroffen zu werden. Bis sie alle den Kreuzgang erreicht hatten und die Soldaten so weit wieder zur Besinnung kamen, dass sie für Ordnung sorgen konnten, war die Menge der Geiseln auf höchstens hundert zusammengeschrumpft. Selbst ein Befreiungsangriff eines Dutzends schwerbewaffneter Ritter hätte nicht mit solcher Effizienz die Mehrzahl der Geiseln befreien können wie Meffridus’ einsame Jagd über die Dächer seiner Stadt.
Keuchend und stöhnend sanken alle im Kreuzgang auf die Knie. Rudolf war auf seinem Pferd wie ein Rasender. Mittlerweile war die eine Klosterschwester, die hinter ihm auf dem Pferderücken gesessen hatte, heruntergefallen oder hatte abspringen können, aber Yrmengard befand sich weiterhin in seiner Gewalt. Er ließ das Pferd sich im Kreis drehen. Sein Gesichtsschild war wieder offen und sein Gesicht ein vager heller Fleck in der Dunkelheit, von dem man trotzdem sehen konnte, wie verzerrt es war. Yrmengard hielt sich an der Mähne des Gauls fest und wand sich in Rudolfs Griff.
»Komm raus!«, brüllte der Graf wie von Sinnen. »Komm raus, du feige Sau! Komm raaaauuuus!«
Ein Armbrustbolzen bohrte sich weit entfernt von ihm in die Erde. Rogers keuchte vor Schreck auf.
Gabriel rannte durch die Menge und verteilte Fußtritte an die Soldaten. »Auf!«, schrie er. »Auf, auf! Treibt die Geiseln in der Mitte des Kreuzgangs zusammen. Auf! Dann zieht euch unter das Pultdach der Kreuzgangflügel zurück und ladet eure eigenen Armbrüste! Spannt die Bogen! Los, los, los! Die erste Geisel, die versucht zu fliehen, wird erschossen!«
Hilflos ließen Rogers und die anderen die Soldaten gewähren. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Geiseln ein auf den Knien liegender, schluchzender Haufen, den die Soldaten unter der Deckung des Dachs heraus bewachten, verstärkt durch die Männer, die zuvor die Pferde bewacht hatten, und die Nachzügler, die auf der Flucht aus der Stadt heraus verloren gegangen und jetzt wieder zu ihren Kameraden gefunden hatten. Auch Gabriel hatte sich unter die Deckung zurückgezogen und einen Pfeil eingelegt. Seine Blicke versuchten, die Finsternis zu durchdringen. Rudolf presste immer noch Yrmengard an sich und ließ das Pferd sich auf der Stelle drehen. Er war der Einzige, der sich
Weitere Kostenlose Bücher