Die Philosophin
Ihr war so übel, dass sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Hast du nicht eben selbst gesagt, die Enzyklopädie bedeutet Monsieur Diderot mehr als sein Leben? Willst
du
nun sein Todesurteil aussprechen?«
»Ich … ich kann es nicht«, wiederholte Sophie nur leise, während die Tränen an ihren Wangen herabflossen. »Auch wenn ich es wollte …«
»Dein letztes Wort?«, fragte die Pompadour.
Sophie hob die Augen und nickte stumm. Ihr Kopf war so schwer wie ein Mahlstein.
Sie schwiegen beide eine lange Weile, während die Diener reglos am offenen Portal warteten.
Dann sagte die Pompadour: »Mein Gott, du scheinst ihn wirklich zu lieben.«
Durch den Schleier ihrer Tränen sah Sophie verschwommen das Gesicht.
Fast schien es, als würde die Pompadour lächeln.
15
Es war eines von jenen zahllosen Soupers in Versailles, die weniger der Nahrungsaufnahme als vielmehr dem Zweck dienten, die Langeweile des Herrschers zu vertreiben. Pater Radominsky, der zwischen Maria Leszczynska und Madame de Pompadour an der königlichen Tafel saß, empfand die Konversation als ebenso zäh wie das Ragout, das er gerade auf seinem Teller zerteilte. Es ging einmal mehr um die Frage, wann die Königin die Favoritin ihres Gemahls endlich zu ihrer Hofdame ernennen würde.
Während die Pompadour lächelnd ihre Bosheiten austeilte, die ihre königliche Freundin mit einfältiger Dankbarkeit quittierte, dachte Radominsky über sein weiteres Vorgehen nach. Das Schicksal der Enzyklopädie war besiegelt – von dem Schlag, den er den Philosophen versetzt hatte, würden diese sich so schnell nicht erholen. Doch er wollte sich mit diesem Triumph nicht begnügen. Seine Absicht war es, das ganze Unternehmen selber in die Hand zu nehmen –
ad maiorem Dei gloriam,
zum höchsten Ruhme Gottes.
Eine solche Übernahme würde gleich zwei Probleme auf einmal lösen. Zum einen galt es, der Schlange endgültig den Kopf abzuschlagen, bevor sie diesen noch einmal erhob, um ihr Gift zu verspritzen. Doch mehr noch als die Gefahr, die von den ketzerischen Artikeln zu Fragen der Theologie und Philosophie ausging, fürchtete Radominsky die wissenschaftliche Reputation, welche die Enzyklopädisten mit ihren Beiträgen zur Erklärung der Naturphänomene erwarben. Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung ließen sich mit den Zuchtmitteln der Dialektik und der Justiz bekämpfen; dieeinfachen Gesetze der Natur dagegen entzogen sich solcher Unterwerfung. Doch gerade in deren Erforschung waren die Philosophen den Jesuiten weit überlegen, wie die dürftigen Artikel in dem Wörterbuch belegten, das Radominskys Glaubensbrüder in Trévoux herausgaben. Gelänge es aber, die Enzyklopädie deren Wörterbuch einzuverleiben, würde der Glanz naturwissenschaftlicher Erkenntnis unmittelbar auf die Gesellschaft Jesu abstrahlen. Der König hatte ihn bereits wissen lassen, dass er einer solchen Übernahme durchaus gewogen sei – als Belohnung für den Eifer, den die Jesuiten bei der Bekämpfung der Konspiration gegen die Kirche und den Staat gerade erst wieder unter Beweis gestellt hätten.
»Wer weiß«, weckte die Pompadour Radominsky aus seinen Überlegungen, »vielleicht richten die vielen Verhaftungen der letzten Zeit mehr Schaden als Nutzen an. Das Land blutet aus, wenn die besten Köpfe Frankreich verlassen.«
»Die besten Köpfe Frankreichs sitzen nach wie vor an diesem Tisch«, erwiderte König Ludwig und blickte Radominsky an, der sich mit einer angedeuteten Verbeugung für das Kompliment bedankte. »Wenn ich nur von diesem Ragout ähnlich Rühmliches behaupten könnte!« Er ließ das Besteck fallen und klatschte in die Hände. »Fort damit! Das sollen die Schweine fressen – oder nein, besser, man gibt es den Köchen. Das wird ihnen eine Lehre sein.«
»Was für eine kluge Maßnahme«, pflichtete Radominsky bei, froh darüber, dass die Konversation wieder in das übliche Geplauder überging.
Die Lakaien wechselten die Speisen, doch die Pompadour blieb beim Thema. »Vergessen wir nicht, während wir hier sitzen, ist Voltaire schon wieder in Sanssouci. Der größte Philosoph Frankreichsam Tisch des Preußenkönigs statt an der Tafel Ihrer Majestät.«
»Sie wissen doch, wie sehr die Politik uns langweilt«, erwiderte Ludwig gequält. »Wir haben ganz andere Sorgen. Wir sind erschöpft von der Jagd, erschöpft und verärgert. Meine Büchse hatte Ladehemmung. Fragen Sie Du Bois.« Er deutete auf seinen Jagdaufseher, der am unteren Ende der
Weitere Kostenlose Bücher