Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
bevor ich die kleine Hand sah, die sich vergeblich danach ausgestreckt hatte.
„Der einzige Weg, innerlich damit fertig zu werden, ist, sich das hier einzuprägen und dann alle zu erledigen.“ Er hatte mich damit wirklich wachgerüttelt. Zwar nur einmal, dafür aber richtig.
„Schaffst du das?“
Ich musste schwer schlucken, und auf meiner Zunge lag ein Geschmack, den ich nie wieder hatte schmecken wollen, und dennoch nickte ich. „Mir geht es gut.“
„Hilfe! Bitte helft mir!“
Ich wirbelte herum zu dem Basketballfeld, doch von den toten Stadtbewohnern rührte sich keiner. Wie denn auch? Als ich mich wieder umdrehte, stolperte gerade ein Mann den Gang zur Turnhalle entlang.
Groß, mit massigem Nacken und kräftigen Armen, seine Augen blickten wirr. An ihm klebte Blut, aber an uns genauso. Sein grau meliertes Haar war klatschnass vor Schweiß. Winterlich blass die Haut und seine Kleider schäbig, zerschlissen und mit schwarzen Flicken gestopft. Er warf einen Blick in die Halle und blieb dann wie angewurzelt stehen, starrte mit offenem Mund, wollte etwas sagen, doch kein Ton kam dabei heraus.
„Berühr ihn“, flüsterte Jimmy.
„Ww-was?“
Mit dem Kopf deutete er auf die hoch über der Tribüne gelegenen Fenster. Die Sonne war aufgegangen.
Ich senkte die Augen. „Hallo, Sie“, sagte ich vorsichtig, und er löste den Blick von den Toten und sah mich an.
In seinen Augen standen Trauer und Angst, und er lief auf mich zu. „Ein Glück, dass Sie gekommen sind. Ich hatte mich versteckt und…“ Seine Stimme versagte.
Ich hielt ihm die Hand hin, und er griff dankbar, beinahe verzweifelt danach. Nur zu gut konnte ich das Bedürfnis verstehen, sich mit jemandem zu verbinden, den Schrecken zu teilen und sich Trost zu holen.
In Gedanken war ich schon dabei, saubere Sachen für ihn zu finden, ihn in den Hummer zu verfrachten und an einen sicheren Ort zu bringen. Doch als sich dann unsere Hände berührten, strich mir plötzlich ein durch nichts zu erklärender Windhauch übers Haar.
Werwolf , flüsterte Ruthie.
Ich wandte mich zu Jimmy um und sagte: „Knall ihn ab.“
15
D er Typ löste sich auf der Stelle in Asche auf. Der Schuss hallte so laut, und ich hatte so dicht danebengestanden, dass ich minutenlang gar nichts mehr hören konnte. Da ich durchgeschwitzt und blutverschmiert war, blieb die Asche an mir kleben. Ich konnte mir jetzt lebhaft vorstellen, welch schlimme Strafe es gewesen sein musste, wenn man geteert und gefedert wurde.
„Lizzy?“ Jimmys Stimme kam von weit her, aber sie hörte sich tatsächlich besorgt an. Was war denn aus der knallharten Nummer geworden? Wahrscheinlich sah ich noch schlimmer aus, als ich mich fühlte.
Wir blickten uns in die Augen, und was immer er darin sah, es veranlasste ihn, die Stirn zu runzeln. „Geht es dir gut?“
Ich blinzelte. Wie Schnee, der von den Bäumen rieselt, fiel die Asche von meinen Wimpern. „Pusteblume.“ Ich nieste. „Und jetzt?“
„Uns blieb nichts…“, fing er an. Ich betrachtete indessen meine Hand und war trotz allem überrascht, wie blutig sie war.
Ich ließ Hand Hand sein und sagte: „Wir müssen das jetzt wirklich nicht besprechen, Sanducci. Lass uns einfach abhauen.“
Langsam hatte ich gelernt, die Nuancen aus Ruthies Stimme herauszuhören, konnte zwischen der Warnung vor einem Nephilim oder einem Rachedämon aus der Hölle unterscheiden.
Gerade eben war ihre Stimme lauter und intensiver gewesen und hatte damit in meinem Kopf eine Art Summen ausgelöst, das, als sie mir von Jimmy erzählt hatte, nicht da gewesen war.
Natürlich war das Wort „Werwolf“ als Hinweis auch nicht schlecht gewesen. Dass sie in einem schlechten Ruf standen, hatte ich bereits gewusst, bevor ich von ihrer Existenz überzeugt worden war.
Jimmy starrte mich ein paar Sekunden lang an und nickte dann einmal kurz. „Wir müssen die Bude hier abfackeln.“
„Die ist doch noch ganz neu.“
„Ein tragisches Unglück, das sich ereignet hat, als die ganze Gemeinde hier versammelt war, ist immer noch plausibler als ein Massenmord durch Gestaltwandler.“
Jimmy verließ die Halle, und ich folgte ihm.
„Das Haus ist aus Backsteinen, wie soll das denn brennen?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich mach das nicht zum ersten Mal.“
Ein kleiner Gang zum Hummer, und schon stand er mit Benzin und Sprengstoff da.
„Ist das nicht etwas verdächtig?“
„Die Leute sehen, was sie sehen wollen. Keiner ist mehr da, um das Gegenteil zu behaupten.
Weitere Kostenlose Bücher