Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
Reservats am Fuß des Mount Taylor, eines der vier heiligen Berge, die die Grenzen des Navajolandes markieren. Das Land wird auch die Strahlende Fünfte Welt genannt.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr verspannten sich meine Schultern. Mir tat schon der ganze Nacken weh. Gegen den Zug des Sicherheitsgurtes lehnte ich mich nach vorne und hielt angestrengt nach dem Haus Ausschau.
Dabei war meine ganze Konzentration so sehr auf das gerichtet, was uns erwarten würde, dass mir beinahe das entging, was bereits da war. Nur widerwillig wandte ich meine Aufmerksamkeit dem schwarzen Schatten zu, der zu unserer Rechten aufgetaucht war.
Ein Wolf rannte leichtfüßig neben unserem Wagen her. Schwer zu sagen, ob es jetzt ein echter Wolf war, oder…
Ich meine, er war insofern echt, als dass man ihn hätte anfassen können. Aber war er jetzt ein ganz stinknormaler Wolf oder wieder eines dieser Werwolfexemplare?
Gerade wollte ich den Mund aufmachen, um es Jimmy zu sagen, überlegte es mir dann aber anders. Schließlich handelte Jimmy nach dem Grundsatz: Erschieße jeden Wolf, den du siehst. An und für sich eine gesunde Politik, wenn sich Wölfe in Menschennähe aufhielten. Aber bei diesem war es anders. Das Tier lief seines Weges und nahm keine Notiz von uns.
Und es war wunderschön. Schwarz und glänzend. Wild und frei. Mir hatten Wölfe immer gefallen, zumindest die Vorstellung von ihnen. Bis gestern.
Das Tier war nicht sonderlich groß, nicht so wie die meisten Bestien in Hardeyville, aber natürlich konnte sich dahinter auch eine Frau oder ein kleiner Mann, vielleicht sogar ein Teenager verbergen. Was zum Teufel wusste ich schon davon? Aber wenn es sich um einen Nephilim handelte, mussten wir es erledigen, bevor es noch jemand anderen erledigte. Ich fügte mich ins Unvermeidliche.
„Jimmy“, murmelte ich.
Sofort folgte er meinen Blicken, kniff die Augen zusammen und riss den Hummer nach rechts hinüber, als wollte er den Wolf über den Haufen fahren. Ein einziger Wimpernschlag, und das Tier war wie vom Erdboden verschluckt. Mühsam brachte Jimmy den Hummer wieder auf die Straße, während ich meine Nase an die Scheibe drückte und blinzelnd nach dem Wolf Ausschau hielt.
„Wohin ist er verschwunden?“
Jimmy antwortete nicht, starrte nur geradeaus auf die Fahrbahn, seine Finger hielten das Lenkrad fest umklammert, während sich seine Kiefer mahlend vor- und zurückschoben. Ich schauderte bei dem Geräusch der knirschenden Zähne. Er schien eher ärgerlich als ängstlich zu sein, und ich wusste nicht, weshalb.
„Ist einfach so verschwunden“, sagte ich leise. „Das war kein Werwolf.“
Zumindest nicht einer von der Sorte wie in Hardeyville.
Und je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass dieser Wolf hier auch kein richtiger Wolf gewesen war. Viel wusste ich zwar nicht darüber, aber mit Sicherheit konnte ein gewöhnliches Tier nicht mit einem Wagen auf dem Highway Schritt halten. Wir fuhren immerhin mindestens siebzig. Und dann noch die Nummer mit dem plötzlichen Verschwinden. Verdammt seltsam.
Der Wagen neigte sich erneut in eine Rechtskurve, und mein Blick wanderte wieder zum Straßenrand, diesmal in der Erwartung, das schwarze Tier möge eventuell nicht nur neben uns herlaufen, sondern uns angreifen. Doch vor dem Fenster lag nur die leere Wüste.
Ich hatte indessen andere Probleme als einen flitzenden Wolf, der sich in Luft auflösen konnte. Mir stand Sawyer bevor. Wie eine Fata Morgana tauchte sein Grundstück vor uns auf.
Innerhalb weniger Minuten war es dunkel geworden. Schnell und unvermittelt – so wie immer hier. Kurz zuvor, im Licht der Dämmerung, waren noch einmal alle Farben der Wüste aufgeleuchtet: flammendes Fuchsienrot, gedämpftes Gold und Rotorange, die das strahlende Himmelblau wie einen tiefen Ozean durchwirbeln. Der Abend jedoch ließ die Farben verblassen wie auf einem Aquarell, das man in den Regen hielt.
Die Scheinwerfer tauchten das Gehöft in helles Licht. Auf dem Hof stand jemand. Ich wusste schon, wer es war, ich brauchte erst gar nicht genau hinzusehen.
Neben dem kleinen Ranchhaus, das aus zwei Schlafzimmern, einer Küche, einem Bad und einem Wohnzimmer bestand, stand der traditionelle Hogan der Navajo, eine runde Behausung aus Holz, Reisig und Lehm.
Dem Himmelsgewölbe nachempfunden, das als der Hogan der Erde gilt, war das Haus fensterlos, und der einzige Eingang war nach Osten, nach der aufgehenden Sonne ausgerichtet, sodass die Bewohner
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