Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
von jedem neuen Tag schon am frühen Morgen begrüßt wurden. Dahinter, auf einer kleinen Anhöhe, stand ein weiterer kleinerer Hogan, der als Schwitzhütte genutzt wurde. Die beiden Hütten waren durch einen überdachten Vorbau verbunden, unter dem man in den Sommermonaten essen und schlafen konnte.
Jimmy hielt den Wagen an, und ich stieg aus. Meine Bewegungen waren fahrig, als wäre ich in Trance. Vielleicht war ich das auch. Eigentlich wollte ich wegrennen und mich verstecken, doch ein Blick auf Sawyer, und schon wurde ich magisch angezogen. Ich konnte mich ihm nicht entziehen.
Was er war, wusste ich nicht so genau. Ein Hellseher? Vielleicht. Ein Hexer? Wahrscheinlich. Er war ein Magier, ein Medizinmann, aber selbst damit ließen sich seine Fähigkeiten nicht hinlänglich erklären. Wie Hitzewellen, die an einem sengend heißen Sommertag über den Asphalt flimmern, verströmte er seine Macht.
„Phoenix“, murmelte er mit tiefer Stimme und in einem solch gemächlichen Rhythmus, als habe er alle Zeit der Welt.
Schon immer hatte er mich bei meinem Nachnamen gerufen. Wahrscheinlich um eine Art Distanz zwischen uns zu schaffen. So wie die Dinge standen, war das nicht weiter verwunderlich. Aber wenn er meinen Namen aussprach, klang es immer so, als flüstere er mir kleine Geheimnisse ins Ohr.
Hinter mir kroch Jimmy aus dem Wagen. Ich würdigte ihn keines Blickes. Schließlich hatte er mir das hier eingebrockt. Er würde schon sehr schnell spitzkriegen, warum ich lieber nicht hergekommen wäre.
Unter normalen Umständen würde wohl kein Mensch ein fünfzehnjähriges Mädchen in eine abgelegene Hütte zu einem alleinstehenden Mann schicken. Unter normalen Umständen wäre das Grund genug, jemanden einzubuchten. Aber wie bereits ausführlich dargestellt, hatte es in meinem Leben keine Normalität gegeben.
Auch wenn ich in seinen Augen Dinge gesehen hatte, die mir Angst eingejagt, die ich nicht verstanden hatte, die ich nicht hatte benennen können, weil ich entweder noch zu jung, unerfahren oder dumm gewesen war, Sawyer hatte mich nie anders als mit Respekt behandelt. Vielleicht weil er sich vor Ruthie fürchtete.
Aber Ruthie war jetzt tot.
Ich ging auf ihn zu. Er wartete still. Immer noch leuchteten die Scheinwerfer, und der Motor brummte. Selbst im Dunkeln hätte ich den Mann beschreiben können, der oft genug durch meine Träume gegeistert war.
Er war kaum größer als ich, vielleicht eins sechzig, trotzdem wirkte er gewaltig; das lag an seiner starken Aura. Seine langen Haare waren meist zurückgebunden. Dafür benutzte er, was ihm gerade in die Hände fiel: eine Schnur, ein Band, die getrockneten Gedärme seiner Opfertiere. Ich übertreibe. So etwas Profanes wie ein Band hat er nie benutzt.
Sein Gesicht war nicht gerade schön. Dazu hatte es zu viele Ecken und Kanten. Aber seine ebenmäßig bronzene Haut und seine hohen Wangenknochen – damit machte er jedem Model Konkurrenz – betonten die sowieso schon unverschämt langen und dichten Wimpern, hinter denen faszinierende hellgraue Augen hervorblickten. Diese Augen verliehen dem Gesicht auf den ersten Blick etwas Weiches, blickte man länger in sie hinein, bemerkte man, dass sich dahinter der gruseligste Mann aller Zeiten befand.
Außer dem für ihn typischen Lendenschurz trug er nichts. Schon immer hatte ich ihn fragen wollen, warum er sich anzog, als sei er gerade einem Lederstrumpf-Roman entsprungen, hatte mich aber nie getraut. Stattdessen hatte ich mich bei anderen erkundigt und erfahren, dass es die traditionelle Kleidung seines Stammes war.
Vor dreihundert Jahren.
Eigentlich wurde zum Lendenschurz eine enge Hose und ein weites Oberteil getragen, nicht jedoch von Sawyer.
Jede Kurve und jedes Muskelspiel konnte man sehen. Schon als Teenager ahnte ich, dass seine Haut heiß war. Nur wusste ich damals noch nichts damit anzufangen.
Mit fünfzehn war ich das letzte Mal hier gewesen, und jetzt war ich fünfundzwanzig. Zehn Jahre zu seinem damaligen Alter dazugerechnet – weiß der Geier, wie alt er damals schon war –, und dennoch sah er keinen Tag älter aus. Nicht eine Falte zeigte sich in seinem Gesicht; und so viel wir damals auch trainiert oder geschuftet hatten, nie hatte er einen Anflug von Schwäche gezeigt.
Ich blieb einen Meter vor ihm stehen, auch wenn ich aus einem Impuls heraus gern näher herangegangen wäre und meine Zähne zusammenbeißen musste, es nicht zu tun. Er sollte mich nicht anfassen. Das hatte ich noch nie gemocht.
Aus
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