Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition)
zucken und Donner zu grollen. Beides schien sich direkt auf den Friedhof zu konzentrieren. Eine tiefe Stimme erhob sich jenseits der weißen Ziegelmauern – eine Stimme, die ich wiedererkannte.
»Mait.« Ich lief auf das Tor zu.
Er hat gesagt, er hätte das Buch gelesen.
War das Ruthies Stimme oder meine eigene? Und was hatte das zu bedeuten?
Vorsichtig näherte ich mich. Das Tor war geschlossen und verriegelt, doch das spielte keine Rolle. Ich wünschte mir, auf der anderen Seite zu sein, und schon war ich es.
Ich war schon einmal hier gewesen, allerdings bei Tageslicht und mit einer Reisegruppe. Damals war der Ort schon unheimlich gewesen, aber jetzt war er erst richtig gespenstisch.
Da New Orleans unter dem Meeresspiegel lag, wurden die Menschen oberirdisch beigesetzt, da die Särge sonst in der Regenzeit wieder auftauchen und davontreiben konnten.
Interessanterweise war die Rassentrennung in der Stadt auf den Friedhöfen am wenigsten ausgeprägt. Im Tod wurden die Menschen nach Religionen getrennt, nicht nach ihrer Hautfarbe. Und alle wurden gleich behandelt.
Nachdem sie ein Jahr und einen Tag auf einem Regal in einem Grabdenkmal aus Ziegelsteinen verbracht hatten, das sich kurioserweise Ofen nannte, wurden ihre Überreste zu ihren Vorgängern in einen Schacht geworfen, um Platz für den Nächsten zu schaffen. Obwohl St. Louis Number One von der Fläche her nur die Größe eines Häuserblocks hatte, war es die Ruhestätte von über hunderttausend Seelen.
Weiße Grabmäler leuchteten kalt im Mondlicht. Schatten tanzten über den mit Steinen übersäten Boden. Hier ragte der Umriss eines Engels über einer schmalen, hohen Krypta auf, dort eine geisterhafte Statue in der Form der Jungfrau, umgeben von sonnenverbranntem Gras.
Ich folgte dem Klang der Stimme. Mait gab sich keine Mühe, leise zu sein. In Wirklichkeit war außer ihm auch niemand hier.
»Erstehe auf!«, schrie er.
Oh-oh.
Die Gestalt eines Mannes flitzte durch das Tor. Zuerst dachte ich, es wäre Mait, doch dann hörte ich den Sosye wieder ganz in der Nähe sprechen. »Nicht alles ist verloren.«
Zwei weitere Gestalten rannten zwischen den Krypten hindurch. Das Tor schepperte. Ich spähte an der Statue vorbei. Mait klatschte in die Hände, dann knirschte etwas – so richtig Adams-Family-mäßig –, gefolgt vom Rhythmus zurückweichender Schritte. Ein kurzer Blick zur Rampart Street zeigte, dass das Tor jetzt weit offen stand und ein halbes Dutzend Gestalten hindurchströmte, um sich dann in verschiedene Richtungen zu verteilen.
Verdammt.
Er hatte das Buch gelesen.
Angewidert und fasziniert zugleich sah ich zu, wie Mait seine Hand auf ein weiteres glänzend weißes Grab legte und murmelte: »Erstehe auf.«
Ich erwartete, dass sich die Tür öffnen oder der Stein herabfallen würde. Vielleicht würde Rauch aus einem Riss aufsteigen und die Gestalt des Untoten formen, die dann immer mehr an Substanz gewänne, bis der gerade erweckte Geist die Schritte verursachen konnte, die ich vorhin gehört hatte, während er Samyaza-weiß-wohin lief.
Stattdessen sah ich noch so einen menschenförmigen Schatten zwischen den Gräbern hindurch und aus dem Tor huschen. Jetzt ist er weg, Abrakadabra, und jetzt ist er wieder da.
Die aufgeheizte, überreife Nacht fühlte sich plötzlich viel zu kühl an. Ganz gleich, wie sehr wir uns auch bemühten, wir kamen in unserem Kampf gegen die Mächte der Finsternis offenbar überhaupt nicht voran. Ich wusste zwar, dass das alles unausweichlich war, aber verdammt, könnten wir denn nicht wenigstens einmal eine Verschnaufpause herausschlagen?
Das Buch war verbrannt worden, um zu verhindern, dass eine nächste Armee der Untoten auferweckt wurde, nur um dann festzustellen, dass der Bewahrer des Buches das verdammte Ding auswendig gelernt hatte.
Im nächsten Augenblick saß ich Ruthie am Küchentisch gegenüber. Ihr Tee war nicht mehr da, meiner kalt.
»Was zum Teufel war das?«, murmelte ich. »Er muss nur sagen Erstehe auf , und dann tun sie es? Was für eine Art Zauber soll das sein?«
Sie betrachtete mich einige Sekunden lang nachdenklich aus ihren dunklen Augen, so als versuchte sie zu entscheiden, ob sie mir die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Dann seufzte sie.
»Der Zauber, der in dem Buch Samyaza liegt, weckt die Toten nicht auf. Er erschafft aber jemanden, der es kann.«
32
S chlagfertig, wie ich war, starrte ich Ruthie an und sagte: »Häh?«
»Mait hat die Fähigkeit, die Toten
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