Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition)
Ruthie zog die Brauen zusammen. »Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir erlaubt hätte, den Dämon wegzusperren.«
Ärger flackerte in mir auf. Es war nicht meine Idee gewesen, und außerdem … »Ich wusste gar nicht, dass ich hätte fragen müssen. Ich dachte, ich bin jetzt die Anführerin.«
Sie hob eine Braue. »Du glaubst wohl, du bräuchtest meine Hilfe nicht?«
Mein Ärger erstarb wie eine Flamme in einer Windböe. »Das habe ich nicht gesagt.« Ich brauchte alle Hilfe, die ich nur kriegen konnte.
»Na, komm her«, sagte sie und ging durch den Flur in ihre sonnige Küche.
Auf dem Tisch standen zwei Tassen Tee. Ich stand zwar nicht so darauf, Ruthie aber schon, also setzte ich mich. Vor dem Fenster an der Rückseite des Hauses spielten Kinder in einem sich ständig verändernden Garten zunächst mit riesigen Holzspielgeräten. Dann erschien ein großes Spielfeld, und die Kinder – in allen Typen und Größen – wählten die Seiten für irgendeine Art von Spiel.
Ruthies Haus war heute ebenso voller verlorener Seelen wie früher, als sie noch gelebt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass jetzt jeder in ihrem Haus – außer mir – tot war.
Jedes Mal, wenn ich Ruthie in ihrem Himmel besuchte, wallten Schuldgefühle in mir auf. Bei meinen letzten Besuchen waren fast alle Kinder, die hier lebten, nur deshalb hier, weil ich es nicht geschafft hatte, sie zu retten.
Ruthie setzte sich. Ich trank einen Schluck Tee. Erfrischend minzig. Ich mochte ihn trotzdem nicht.
»Warum bin ich hier?«, fragte ich.
»Ich dachte, du hättest mich vermisst.«
»Das habe ich ja auch, aber … « Ich zuckte die Schultern.
»Du hättest lieber Sawyer getroffen.«
»Ja.« Ich atmete tief ein. »Aber dank Sanducci wird wohl nichts mehr daraus.«
Ruthie nippte an ihrem Tee und antwortete nicht.
»Oder?«, hakte ich nach.
Sie setzte ihre Tasse ab und sah aus dem Fenster. Ihre Schützlinge kickten einen Fußball hin und her – hin und her, hin und her.
»Ruthie?«, versuchte ich es noch einmal. »Warum bin ich hier?«
»Ärger kommt auf uns zu«, sagte sie.
»Wenn ich jedes Mal fünf Cent bekommen würde, wenn ich das höre … «, fing ich an.
»Du wirst mit den Entscheidungen leben müssen, die du triffst. Und du wirst sie allein treffen müssen«, murmelte sie. »Schon bald.«
»Wann?«, fragte ich. »Was?«
Es gefiel mir nicht, Entscheidungen über Leben und Tod anderer Menschen treffen zu müssen. Entscheidungen, die langfristig den Anfang vom Ende der Welt bedeuten konnten. Insbesondere, weil ich die meiste Zeit nicht die geringste Ahnung hatte, was ich da eigentlich tat.
»Du hast recht«, sagte sie. »Du bist aus einem bestimmten Grund hier. Es gibt nämlich etwas, das ich dir sagen muss.«
Angst überlief mich und hinterließ eisigen Schweiß und einen widerlichen, klebrigen Geschmack ganz hinten in meiner Kehle. »Jimmy … «, sagte ich erst, und dann: »Luther.«
Als mir schwindlig wurde, merkte ich, dass ich nicht mehr atmete, und schnappte hörbar nach Luft. »Faith?«
Ruthie schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Konzentrier dich, Lizbeth!«
Es war nicht leicht, aber ich bekam es hin. »Bin da.«
»Wenn die Nephilim glauben, dass du eine Schwäche hast«, sie kniff die Augen zusammen, »oder sogar drei, dann werden sie das ausnutzen.«
Ich wusste es. Wieder und wieder war ich gewarnt worden, nicht zu viele Gefühle zu investieren. Aber ich konnte nichts dagegen tun.
»Was stimmt nicht?«, fragte ich.
»Alles«, sagte Ruthie und legte ihren Daumen in die Mitte meiner Stirn.
Ich schielte und blinzelte, und im nächsten Augenblick befand ich mich an einem anderen Ort.
Eine dunkle, verlassene Straße – der Gehweg war kaputt, ebenso einige Straßenlaternen. Die Luft war schwül und heiß und roch noch nach Regen.
»New Orleans«, flüsterte ich. Diesen Geruch hätte ich überall wiedererkannt.
Die Gebäudereihen schienen vom Alter gebeugt. Vor mir konnte ich nur die emporragenden Türme einer Kirche sehen – und auf der anderen Straßenseite …
»Saint Louis Cemetery Number One.«
Der älteste Friedhof in New Orleans, nach Einbruch der Dunkelheit ein sehr gefährlicher Ort. Gut, dass ich nicht wirklich da war.
Der St. Louis Cemetery Number One war dort errichtet worden, wo sich früher Storyville befunden hatte, das einzige legale Rotlichtviertel des Landes. Jetzt war der Ort um einiges ruhiger. Doch als ich hinsah, begannen Blitze zu
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