Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition)
erschleichen können? Lag es daran, dass sie Sawyers Tochter war und Sawyer nicht mehr lebte?
Was würde geschehen, wenn sie alt genug war, um zu fragen, wo sie ihren Vater finden konnte? Und was sollte ich erst sagen, wenn sie mich danach fragte, wie er gestorben war?
Ich wand mich. Darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
Stattdessen fuhr ich fast eine Stunde lang nach Nordwesten, dann hielt ich an einem Café an, dessen Parkplatz voller Lastwagen stand. Lkw-Fahrer wussten, wo man gutes Essen bekam – und noch besseren Kaffee. Sie mussten es wissen.
Ich war müde und hungrig, und ich musste einen Blick auf die Straßenkarte werfen. Mir war noch nicht ganz klar, wie ich von hier aus zum Inyan Kara kommen sollte.
Ich bestellte Kaffee, Orangensaft, Eier, Würstchen und Weizentoast, dann brütete ich über der Karte. Ich müsste die Berge in zwei oder drei Stunden erreichen können, je nachdem, wie gut die Straßen ausgebaut waren und wie genau die Karte war.
Ich könnte mich auch verwandeln und dorthin fliegen. Aber dann wäre ich nackt, wenn ich wieder meine menschliche Gestalt annahm. Und dass ich mich zurückverwandeln musste, stand ja fest. Ich mochte noch so besonders sein – ein sprechender Phönix war ich nicht.
Nacktheit war zwar gut geeignet, um einen Mann, egal welchen Alters, von so ziemlich allem zu überzeugen, aber ich wollte es doch zuerst mit kühler, ruhiger, rationaler Logik versuchen.
Ich starrte auf die Karte und machte mir ein paar Sekunden lang wegen der Größe des Inyan Kara etwas Sorgen. Wie sollte ich diesen Kerl nur finden?
Andererseits war ich schon öfter in solchen Situationen gewesen, und das Wie hatte sich noch immer von selbst ergeben. Zum Beispiel meine Fahrt in die Badlands, um Jimmy zu finden. Sie waren ja riesig, aber schon nach wenigen Minuten hatte ich ganz genau gewusst, wo Sanducci steckte. Ich war sicher, dass sich mir der Aufenthaltsort von Sani von selbst zeigen würde, sofern es nötig war.
Im schlimmsten Fall würde ich, einmal auf der Spitze des Berges angelangt, meine übermenschliche Geschwindigkeit, meine Gestaltwandlerfähigkeit oder, wenn ich auf etwas stieß, das der alte Mann berührt hatte, meine hellseherische Gabe einsetzen, um ihn zu finden.
Ich aß mein Frühstück auf, zahlte die Rechnung und suchte die großen, sauberen Toiletten auf – es gab sogar eine Duschmöglichkeit für die Kunden – die Anzahl der weiblichen Lkw-Fahrer hatte in den letzten paar Jahren deutlich zugenommen. Dann nahm ich den Kaffee, den ich zum Mitnehmen bestellt hatte, und stieg wieder in den Impala.
Die Straße führte immer weiter, manchmal schien sie sich in dem flachen Land, das mich umgab, geradezu aufzulösen. Aber hin und wieder hätte ich doch schwören können, den dunklen Streifen des Gebirges vor dem Horizont erkannt zu haben.
Ich bremste gerade ab, um in einer fast haarnadelengen Kurve ein kleines Wäldchen und etwas, das wie ein Friedhof mitten im Nirgendwo aussah, zu umfahren, als etwas auf die Straße schoss.
Ich stieg auf die Bremse; der Kaffee flog mir aus der Hand, durchnässte mich, den Sitz und den Fußraum – ich nahm es aber kaum wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem weißen Gesicht und den entsetzten Augen der jungen Frau nur wenige Zentimeter vor meiner Stoßstange.
Sie schlug ihre zerkratzten und blutigen Hände auf die Motorhaube. »Hilfe!«, schrie sie und sah dann über die Schulter zurück. Blut tropfte aus den Bissspuren an ihrem Hals.
Ich schloss für einen Moment die Augen und spürte das verräterische Summen. Als ich sie wieder öffnete, wusste ich, was ich sehen würde, noch bevor ich ihrem Blick folgte.
Vampire. Und zwar jede Menge davon.
Gut ein Dutzend Gestalten kam auf uns zu. Sie sahen allerdings nicht wie die Vampire aus, die ich bisher gesehen hatte. Sie waren mit Erde bedeckt, ihre Kleidung war zerrissen und zerfiel vor meinen Augen zu Staub.
Das Mädchen stolperte auf die Beifahrertür zu, riss am Türgriff, schlug darauf ein und begann zu schluchzen, als sich die Tür nicht öffnen ließ. Ich beugte mich hinüber, löste die Verriegelung, und sie hechtete herein. Der Innenraum füllte sich mit dem Geruch nach Blut, und mein Dämon raunte.
Ich stieg aus dem Auto, atmete tief ein und nahm den unverwechselbaren Geruch von Verwesung wahr. Waren das Zombies? Ich glaubte es nicht. Bei einem Zombie hatte ich noch nie das Vampir-Summen gespürt. Allerdings hatte ich auch noch nie einen echten Zombie
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