Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
wurde mir klar, dass das, was er gesehen hatte, ihn wohl über Nacht hatte altern lassen.
„Siehst du was?“, fragte Summer.
Ich nickte, dann deutete ich mit dem Kopf auf den Mann, sie schnipste und Feenstaub schoss aus ihren Fingerspitzen.
Ein ums andere Mal hatte ich mir gewünscht, auch magische Funken versprühen zu können, um die Leute dazu zu bringen, meinen unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen. Leider konnte ich das nicht.
Sobald die glitzernden Funken, unsichtbar für alle anderen, den Mann ins Gesicht trafen, klärte sich sein Blick, straffte sich sein Rücken – und mit dem Schwung eines viel jüngeren Mannes schritt er von dannen.
„Er kann sich an nichts mehr erinnern?“, fragte ich.
Summer sah mich vernichtend an. Natürlich würde er sich an nichts mehr erinnern.
„Womit haben wir es hier zu tun?“, drängte Summer.
„Ich weiß es nicht.“
Sie runzelte die Stirn. „Keine flüsternde Stimme? Kein Bild?“
„Nein.“
„Hmm.“
„Ja.“ Ich musste an das Amulett denken, das immer noch auf dem Autositz lag.
Ob das Monster, das hier sein Unwesen trieb, ein eigenes Amulett besaß? Andernfalls hätte ich doch eine Vision haben oder Ruthies Stimme hören müssen, sobald wir die Grenzen dieser Stadt passiert hatten.
Lautes Stimmengewirr vom anderen Ende der Straße lenkte unsere Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Leuten, die sich aufgeregt unterhielten. Sie gestikulierten wild in Richtung Berge, drückten durch Gebärden aus, wie sie mit einem Gewehr zielen und schießen würden. Offenbar hatte mehr als einer die Bekanntschaft mit dem Wesen in den Bergen gemacht.
Ein Mann und eine Frau in einem leuchtend grünen, ärmellosen Sommerkleid gesellten sich zu der Gruppe. Mir gefiel das Kleid, es war hinten hochgeschlossen und hatte vorne einen herzförmigen Ausschnitt, der den Blick auf ihr Dekolleté und ein wenig Brustansatz freigab. Der Mann beteiligte sich mit vielen Gesten und weiteren pantomimischen Darstellungen von Waffen lebhaft am Gespräch. Die Frau hingegen blieb stumm, wirkte wie unter Drogen.
„Was meinst du?“, fragte Summer.
„Ich glaube, du solltest ihre Festplatte auch löschen.“ Wenn die mit herkömmlichen Waffen in die Berge gingen, würden sie bloß draufgehen.
„Ich verstehe das einfach nicht“, grummelte ich, während wir uns auf die Gruppe zubewegten. „Ich habe nichts gehört, ich habe nichts gesehen. Und wenn Jimmy in der Stadt wäre, dann hätte dieser Dämon in der Höhle schon längst sein Leben ausgehaucht.“
Vor seinem kleinen Zusammenbruch war Jimmy der beste Jäger der Föderation gewesen. Er hätte sich nicht erst von mir sagen lassen müssen, dass etwas Böses in Barnaby’s Gap umging.
„Bist du dir denn sicher, dass er hier ist?“, fragte ich.
Mit einem Schnipsen hüllte Summer die versammelte Menge in eine riesige Wolke aus Feenstaub. Anstatt mit einem besonders schweren Fall von Kurzzeitgedächtnisschwund abzuziehen, erstarrte die Gruppe, als seien sie die besten Stopptickspieler weit und breit.
„Ob ich sicher bin, dass Jimmy hier ist?“, wiederholte Summer und ging auf die Frau mit dem grünen Kleid zu. Sie zerrte an dem falschen Rollkragen und entblößte altbekannte Einstiche, bevor sie mir fest in die Augen sah.
„Ich bin mir ganz sicher“, sagte sie.
5
S ummer klatschte in die Hände, und die Leute zogen ab, ohne sich auch nur nach uns umzudrehen.
Wie die Dorfbewohner gerade eben, stand ich jetzt wie versteinert da. Jimmy war der Dämon in den Bergen. Was sollte ich nur tun?
Ihn umbringen, höchstwahrscheinlich.
„Wir müssen noch die Namen der Seher aus ihm herauspressen, bevor …“ Summer schnappte nach Luft, und ich verstummte.
„Du kannst ihn nicht umbringen!“
„Oh doch, das kann ich.“
„Du liebst ihn.“
„Was hat denn Liebe damit zu tun?“
Vielleicht liebte ich Jimmy immer noch. Wahrscheinlich. Aber gleichzeitig hasste ich ihn auch. Er hatte mich schon so oft verletzt. Vor nicht einmal einem Monat hatte er mich als seine Sexsklavin gehalten; beinahe hätte er mich umgebracht. Dass er von einem mittelalterlichen Hexenmeister – einem Strega – besessen war, der ganz nebenbei auch noch sein lieber guter Papi war, tat dabei nichts zur Sache.
Jimmy war ein Dhampir – halb Vampir, halb Mensch –, also eine Kreuzung. Er besaß viele typische Vampireigenschaften – atemberaubende Schnelligkeit, unglaubliche Kraft und die Fähigkeit, sich von beinahe allem zu heilen. Dazu kam noch die
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