Die Phrrks
größte Teil der Menschheit würde die 368
Contessa trotzdem darum beneiden.
»Dein Jünger«, sagte er, »hat uns vorhin die Nachrichten von RADIO ROM mitgeteilt. Habt ihr noch Strom?«
»Nein, und bald auch keine Batterien mehr, wir können uns nur einmal am Tag Nachrichten leisten.«
Sie seufzte. »Ich würde so gerne wieder einmal Musik hören.«
»Gibt es hier ein Auto? Es könnte auch kaputt sein.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder ein Fahrrad, mit Dynamo?«
»Zwei Fahrräder haben wir, warum?«
»Ich könnte versuchen, daraus eine Lichtmaschine zu machen.«
»Dann wäre es ja sogar nützlich gewesen, dich leben zu lassen«, meinte sie. »Was kannst du noch?
Vielleicht überzeugt es meine Jünger.«
»Mußt du sie überzeugen?«
»Ich muß nicht, aber überzeugen ist besser als be-fehlen.«
»Ich habe eine Bitte, Contessa. Ich habe dir doch von meinem Kumpel erzählt, der am Berg hängt, kannst du jemand losschicken, der ihn…«
»Befreit? Unmöglich.«
»Ihm den Gnadenschuß gibt, wenn er noch lebt.«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie.
»Noch eines. Darf ich meine Sachen wiederha-
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ben?«
»Du brauchst nicht mehr als alle anderen. Deine Ausrüstung haben wir übrigens schon verteilt.«
»Auch meine Brieftasche?«
Sie holte sie unter dem Lager hervor, legte sie auf den Tisch, schüttete alles heraus. »Die Ausweise brauchst du nicht, auch kein Notizbuch, keinen Stift, das Geld…. ich wollte es den Kleinen geben, sie haben so wenig zum Spielen. Vor allem keine Bücher.
Wir haben die Überreste der umliegenden Dörfer durchstöbert, nirgends ein Buch. Sie haben sie wohl als Heizmaterial benutzt. Ein einziges besitze ich, Hemingway, ›Wem die Stunde schlägt, ich kann es fast auswendig. Kennst du Märchen?«
»Ein paar«, sagte er, »Rotkäppchen, Dornröschen, Froschkönig…. was jeder kennt.«
Sie gab ihm Notizbuch und Stift. »Schreib sie auf«, befahl sie, »erinner dich, so gut du kannst, und morgen wirst du den Kleinen etwas zur Nacht erzählen. Kinder brauchen Märchen.«
»Ich möchte das Foto«, sagte er.
Sie sah es sich an. »Deine Frau?«
»Meine Mutter. Es ist ein altes Bild, aber auf dem sehe ich sie am liebsten.«
»Lebt sie noch?«
»Ich weiß es nicht. Sie ist vor einem Jahr geflüchtet, seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
Sie gab ihm das Bild, faßte in alle Fächer der 370
Brieftasche.
»Kein anderes Bild? Keine Frau, keine Freundin?«
»Niemand, der um mich trauern wird.«
Sie stellte einen Krug Wasser und zwei Becher auf den Tisch.
»Setz dich«, forderte sie ihn auf. »Was ich noch wissen möchte: Warum habt ihr den CRASH nicht vorhergesehen? Ihr hattet bestimmt die modernsten Computer.«
»Nicht so gute wie die Militärs, doch die hätten uns auch nicht geholfen. Der Zuwachs war anfangs schwer nachzuweisen.
Panikmache, hieß es. Lagen die Werte nicht im Bereich der jährlichen Schwankungen, des statisti-schen Rauschens? Als es eindeutig wurde, war es zu spät. Selbst die Pessimisten hatten geglaubt, es wür-de ein langsamer Prozeß sein, den man notfalls noch stoppen könne, sobald er bewiesen war, nur eine Handvoll ›Verrückter‹ prophezeite, daß der Prozeß urplötzlich eskalieren könnte, jenseits eines kriti-schen Punktes irreversibel würde und sich im Selbst-lauf aufschaukelte aber wo lag der kritische Punkt?
Jetzt wissen wir es.«
»Zu spät«, sagte sie. »Und man kann die Schuldigen nicht einmal bestrafen.«
»Wir werden alle bestraft, Schuldige wie Un-
schuldige gleichermaßen.«
»Das glaube ich nicht. Die Mächtigen haben im-371
mer gewußt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.«
»Ich fürchte, bald gibt es nirgends mehr Sicherheit. Es sind ja nicht nur die Klimaverschiebungen, die Sintfluten und Wirbelstürme, das Steigen der Meere denk mal an die Giftdeponien der Industrie!
Sicher, man hatte begonnen, die Flüsse zu entgiften, nicht nur an der Rheinmündung sind gewaltige Pol-der entstanden, um den giftigen Schlamm aufzufangen, überall auf der Erde gibt es riesige Deponien, vor allem entlang der Flüsse, wo die Industrie konzentriert war das sind die Gebiete, die zuerst über-schwemmt wurden.
Nicht der Hunger bewirkt die meisten Toten, die meisten verdursten oder werden vergiftet. Und vergiß nicht die chemischen und biologischen Waffen.
Allein in der Bundesrepublik lagerten über fünfhundert Tonnen des Giftgases VX und nicht nur das! –, siebzehn Tonnen hätten genügt, das ganze Land
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