Die Phrrks
Chance, rechtzeitig in Leipzig zu sein und sich um den Vorschalldämpfer zu kümmern. Der Portier blickte verwundert auf Noms Koffer.
»Sie wollen abreisen?«
»Ist das so ungewöhnlich?« fragte Nom zurück.
»Bei uns schon«, erwiderte der Portier. »Wenn Sie Beschwerden haben…«
»Dieses Gejaule allein genüge, den hartnäckigsten Gast zu vertreiben«, unterbrach Nom, »das hört sich an wie ein Rudel Wölfe.«
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»Es sind ja auch Wölfe«, erklärte der Portier. »Sie haben ebenso das Recht auf Asyl bei uns wie Sie, Herr Gnom. Das sind wir dem Geist und dem Namen unseres Hauses schließlich schuldig.«
»Das wollte ich gestern schon fragen«, sagte Nom.
»Was bedeutet dieses geheimnisvolle Mezzofum?«
»MEZOAfU-M«, korrigierte der Portier. »Das
wissen Sie nicht?
ME steht für Mitteleuropäisches, Z für Zentrales, OA für Obdachlosenasyl, fU heißt für Unsterbliche…«
»Für Unsterbliche?« fragte Nom verdattert.
»Andere würden wir nie aufnehmen«, beteuerte der Portier.
Ein Unsterblicher, wiederholte Nom für sich. Hier also wußte man um seinen wahren Rang.
»Und das M«, schloß der Portier seine Erklärung,
»steht für Märchengestalten.«
»Märchengestalten?« Nom starrte sein Gegenüber verständnislos an.
»Das ist doch der Sinn dieses Hauses«, erklärte der. »Sehen Sie, all unsere Gäste, selbst die Wölfe der soeben heult, ist übrigens der Wolf aus dem
›Rotkäppchen‹ –, sind unsterblich.
Irgendwo müssen sie also hausen, doch niemand will sie bei sich dulden. Die Guten, die positiven Helden, wie man heutzutage sagt, ja, die finden über-reichlich Platz in den Herzen der Menschen, wer aber 209
will eine Hexe, einen Zauberer, einen Räuber, einen Riesen aufnehmen? Oder einen Gnom wie Sie.«
»Ich heiße Gnom«, sagte Nom empört, »aber ich bin doch keiner!«
»Nein?« Jetzt war es an dem Portier, Verwunderung zu zeigen. »Wie kommen Sie dann hierher? Uns ist noch nie ein Fehler unterlaufen.« Seine Finger spielten schon auf dem Terminal. »Tatsächlich, eine Verwechslung«, murmelte er dann.
»Sicher meines Namens wegen«, sagte Nom ver-
söhnlich, »und weil Sie erkannt haben, daß ich, wenn auch nur durch mein literarisches Werk, zu den Un-sterblichen zähle.«
Der Portier blickte noch einmal auf das Terminal.
»Ja, der Name hat irritiert«, gestand er, »und noch etwas, nein, nicht Unsterblichkeit, da muß ich Sie leider enttäuschen, aber in der Datenbank sind einige Megabit Stoßseufzer gespeichert, aus dem Kreis Ihrer Familie und Ihrer Bekannten, daß niemand mit Ihnen leben könne. Entschuldigen Sie bitte den Irr-tum. Es ist mir unverständlich. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß unser Computer sich irren könnte.«
Der Portier lüftete seine Mütze und entblößte einen stachlig behaarten Schädel, auf dem drei goldene Haare in die Luft ragten und zwei knorrige, spitze Hörner. »Nichts für ungut, Herr Gnom.« Damit war er verschwunden, in Rauch aufgelöst, und mit ihm 210
das ganze Haus. Nom stand verwirrt im Wald, wenige Schritte vor ihm wartete sein Auto. »Nicht unsterblich?« lallte er. »Nicht mal ein bißchen?«
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Kasperle ist wieder da
Ich gebe zu, die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist schwer zu glauben, doch ich versichere, ich habe sie tatsächlich so erlebt.
Es begann, wie so oft, mit einem Zufall. In dem kleinen Städtchen Mieshof, von dessen Existenz ich bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte. Oder auf der Zugspitze? Wo beginnt eine Story?
Selbst im nachhinein ist der Punkt, an dem eine Information, ein Erlebnis zur Story wird oder unser Leben verändert –, kaum einmal festzustellen, und ich bin immer wieder fasziniert von der Rolle, nein, der absoluten Herrschaft des Zufalls. Im Gegensatz zu meiner Kollegin Dorothea, die behauptet, auch in dem irrsinnigsten, unwahrscheinlichsten Geschehen walte Zwangsmäßigkeit, sage ich, daß unser Leben durch eine unaufhörliche Verknotung von Zufällen bestimmt wird.
Hätte ich nicht die Landstraße genommen oder in einem anderen Ort Rast gemacht, wäre ich an einem anderen Tag, ja, nur zu einer anderen Stunde nach Mieshof gekommen oder nicht so durchgefroren gewesen, daß ich Lust bekam, noch ein wenig im Sonnenschein spazierenzugehen; wenn ich Weißenbacher getroffen oder die Information über den Zug-212
spitzschnee nie erhalten hätte… Hunderte Wenn und Aber, und jedes einzelne hätte ausgeschlossen, daß ich Maud und ihren Kasper je in meinem Leben
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