Die Pilatus-Verschwörung (German Edition)
pensionierte Lehrer Hellinger das Wasser eingoss und für sich die bereitgestellte Weinflasche entkorkte, sah sich der Installateur neugierig um. In diesem Arbeitszimmer schien die Zeit stehen geblieben zu sein. An drei der vier Wänden standen dunkle Eichenregale, in denen Bücher aller Art und Größe standen und lagen, die meisten von ihnen alt, mit Lederrücken und Goldschrift auf den Einbänden. Manches auf Lateinisch, vieles, was von Geschichte handelte, nichts für Hellinger, der über Jerry Cotton nie wirklich hinausgekommen war. Dazwischen weiße Büsten aus Marmor oder Gips, die irgendwelche alten Kaiser oder Philosophen darstellten. An der einzigen freien Wand ein riesiges Bild, das inkräftigen Farben die Darstellung einer großen Trümmerfläche mit Gebäuderesten zeigte. Die Inschrift unter dem Bild gab in großen Lettern Forum Romanum an. Davon hatte Hellinger schon gehört, war das nicht der ...?
»Ich habe Neuigkeiten, wichtige Neuigkeiten«, unterbrach Wiegand die stillen Gedanken seines Gastes und prostete ihm zu.
»Aha!«
»Da ist zunächst die Münze, die Sie gefunden haben. Ein so genannter Solidus, eine Goldmünze, nicht ohne Wert.«
»Wie viel?«
Wiegand schüttelte missbilligend den Kopf.
»Weiß ich nicht. Aber denken Sie doch nicht immer so materialistisch, Frank. Jedenfalls hilft sie uns weiter.«
»Wieso?«
»Weil man sie gut datieren kann. Sie zeigt ein Bildnis von Konstantius II., dem zweiten Sohn von Konstantin dem Großen, jenem römischen Kaiser, der als Erster das Christentum anerkannte. Sie lässt sich auf den Zeitraum 337 bis 361 nach Christus datieren. Das passt zu unseren weiteren Erkenntnissen.«
»Aha!«
»Ja. Und dann habe ich einiges über die Kirche herausgefunden, unter der ihr den Fund gemacht habt.«
»St. Pantaleon?«
Wiegand nickte. »Dazu später. Denn außerdem, und das ist viel wichtiger, weiß ich, oder besser, glaube ich zu wissen, welcher Text auf der zerstörten Schriftrolle stand.«
Hellinger lehnte sich nach vorne, seine Hände waren schweißnass. Er bediente sich ohne zu fragen aus der Wasserflasche.
»Tatsächlich? Sie meinen ...?«
»Wir haben die Schriftreste unter einer Speziallampe mit ultravioletten Strahlen untersucht. Dabei haben sie einige ihrer Geheimnisse preisgegeben.«
Wiegand sog genüsslich an seiner Pfeife und blies den Rauch in die Luft.
»Und? Was steht drauf ?«, drängte Hellinger. Der Gastgeber lehnte sich gemütlich zurück.
»Es ist, wie ich schon vermutet hatte, ein theologischer Text, und zwar ein besonders interessanter. Und das Beste ist, ich habe den Text hier! Jedenfalls bin ich ziemlich sicher!«
Hellinger blickte überrascht auf.
»Sie haben den Text hier?«
»Es handelt sich offenbar um ein Evangelium!«
Hellinger atmete hörbar aus.
»Ein Evangelium? Ich verstehe nicht ganz! So was, was die in der Kirche vorlesen? An Weihnachten und so.«
Wiegand gab ein leises Lachen von sich und nickte gütig.
»Ja, aber nicht nur an Weihnachten, sondern in jedem Gottesdienst. Sie sollten vielleicht öfter einmal in die Kirche gehen. Also, es ist ein Evangelium, aber ein apokryphes.«
»Ein ... was?«
Hellinger füllte sich sein Wasserglas erneut und schüttete die perlende Flüssigkeit in einem Zug herunter. Das Gulasch war doch reichlich scharf gewesen ...
»Sind Sie katholisch, Frank?«
Hellinger nickte. »Aber zur Kirche gehe ich nicht. Nur Weihnachten, wegen Conny.«
»Hm ... das dachte ich mir. Egal, ich vermute, Sie kennen aber doch die vier Evangelien, oder?«
»Die vier ... klar kenne ich die: Petrus, Paulus, Judas, Johannes oder so, ja?«
»So ähnlich.« Wiegand lächelte nachsichtig, wie er es immer getan hatte, wenn seine Schüler ihre lateinischen Deklinationsformen vergessen oder die Schlacht auf den katalaunischen Feldern leichtfertig mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht hatten.
»Also, die vier Evangelisten heißen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.«
Hellinger nickte, er hatte nur die Namen etwas verwechselt.
»Ja, und?«
»Nun«, fuhr Wiegand fort, der die Situation zu genießen begann. Er war in seinem Element, endlich ein wissbegieriger Schüler.
»Neben diesen vier Evangelien gibt es noch eine Menge anderer Evangelien, oder nennen wir sie Berichte, deren Echtheit aber von der Kirche nicht anerkannt wird. Schon in den frühen Zeiten derKirche hat man versucht, die echten von den unechten zu unterscheiden. Und die unechten nennt man apokryph. Das ist griechisch und bedeutet
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