Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
näherte sich Alice der Stelle, an der sie sich aus den Händen ihres Entführers gerettet hatte. Sie warf einen Blick auf die Toten und erkannte den Mann im grünen Kaftan, der, von einem Speer durchbohrt, am Boden lag.
Sie schluckte ihre Angst, ihren Schrecken herunter und begann von sich zu erzählen, von ihrer Kindheit in Passau, ihrem Vater, von den Geschichten, die er von fremden Kaufleuten gehört oder von seinen weiten Reisen mitgebracht hatte.
»Erzähl mir eine«, wurde sie von Godvere aufgefordert.
»Mir fällt eine aus Italien ein«, sagte Alice und begann:
»Also. In Italien, in Genua, lebte ein junger, schöner, reicher Ritter. Er war wundervoll gekleidet und trug die Haare nicht kurz wie die normannischen Männer, sondern ganz nach der neuen Mode lang bis auf die Schultern. Francesco, so hieß er, liebte eine Dame, Amicia. Sie war verheiratet mit einem Grafen, einem weitaus älteren Mann, dem sie treu ergeben war. Zwar entging ihr nicht die Liebe Francescos, wohl war ihr bewusst, dass die Feste, die er für seine Freunde gab und zu denen sie nie erschien, dass die Freigiebigkeit gegen Fremde und die Almosen, die er verschwenderisch an die Armen verteilte, nur dazu dienten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch mit keinem Zeichen gab sie dem jungen Ritter zu verstehen, dass sie seine Huldigungen auch nur bemerkte.«
Godvere lachte höhnisch auf.
»So geht es im Leben nicht zu. Ich kenne jedenfalls unter allen Adeligen nicht einen, der sein Vermögen für eine geliebte Frau verschwenden würde.«
Alice biss sich auf die Lippen. Natürlich, sie hatte es doch eigentlich gewusst, Godvere wollte so eine Geschichte nicht hören.
Denn Balduin hatte Godvere wegen ihrer Ländereien in der Normandie und in England geheiratet. Sie, eine der besten und begehrtesten Partien auf dem Heiratsmarkt des Hochadels, war wohl seinen eleganten Manieren, seiner Bildung und seinem Charme erlegen, obwohl er als dritter Sohn bei der Erbteilung leer ausgegangen war, nichts besaß und nichts besitzen würde. Er hatte sich eine Herrschaft erheiratet, die dem Paar allerdings nur unter der Bedingung zufallen würde, dass sie ihm einen Sohn gebar.
Der sich nicht einstellte.
»Amicias Haltung änderte sich auch nicht nach dem Tod ihres geliebten Mannes. Sie nahm sich vor, im treuen Andenken an ihn zu leben und sich ganz der Erziehung ihres kleinen Sohnes zu widmen. Mit Bedauern, aber ohne dass sie etwas hätte daran ändern wollen noch können, erfuhr Amicia, dass Francesco all sein Vermögen verschwendet und sich auf ein kleines Gütchen zurückgezogen habe, wo er, fernab von dem gesellschaftlichen Leben, ohne einen einzigen Bediensteten lebte.
Einzig und allein sein Falke blieb ihm.«
»Ja, Falken«, wurde Alice von Godvere unterbrochen. »Unsere Ritter können auf sie nicht verzichten, wie man deutlich sieht. Die Jagd ist ein Vergnügen des Mannes. Ein harmloses«, setzte sie hinzu.
Alice dachte, erst ein Jahr verheiratet und schon so verbittert.
»Nun, dieses Ritters auch. Nun begab es sich«, fuhr sie fort, »dass der Sohn Amicias erkrankte. Die arme Frau fürchtete, ihr Kind werde sterben, und hoffte, sie könne ihr Kind durch eine große Freude retten. Sie fragte ihren Sohn, was er sich wünsche. Da antwortete dieser: den Falken Francescos. Die Dame war tief bewegt. Niemals hatte sie sich erkenntlich gezeigt, ihretwegen lebte der Ritter in größter Armut und nun sollte sie ihn um das Letzte bitten, was ihm geblieben war?«
Alice musste ihre Erzählung unterbrechen und Leichen ausweichen, denen die Vögel die Augen aushackten. Den ganzen Weg entlang lagen Tote aus den türkischen Heeren. Zwei Tage lang waren sie von den Rittern verfolgt worden. Die türkischen Männer waren geflohen, bis, so wie es hieß, nur noch der Herrgott sie verfolgte. Alice konnte sich an den Anblick von Leichen immer noch nicht gewöhnen. Sie nahm sich zusammen.
»Doch die Liebe zu ihrem Sohn überwog all ihre Bedenken und schon am nächsten Tag schickte sie einen Diener zu dem Landgut, Francesco ihren Besuch zu melden. Die hohe Frau schämte sich sehr, als sie sein Elend sah. Trotz allem hatte er sie fürstlich bewirtet. Und als sie fast zu Ende gespeist hatten, fragte er sie nach dem Grund ihres Kommens. Amicia antwortete, ihr Sohn sei tödlich erkrankt und nichts vermöge ihn wohl am Leben zu erhalten als sein Falke.
Da legte Francesco sein Messer beiseite und erwiderte:
»Madame, Sie haben ihn eben verspeist.«
Godvere
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