Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
geschlagen war. Auf der Mitte der Treppe der Abt, eine Stufe tiefer ihr Vater, dann die Mutter. Sie fiel, sie fiel. Die Mutter schrie.
Aber Alice empfand kein Mitleid. Erschrocken drehte sie sich auf die andere Seite.
Beim Aufwachen auf dem staubigen, harten Boden taten Alice die Glieder weh, sie starrte in einen Himmel, dessen stechendes Blau ihren Augen schmerzte. Verlassen fühlte sie sich und hatte gleichzeitig das Empfinden, dass jene ferne Nacht, in der die Mutter den Tod fand, wie ein böser Greifvogel über ihr selbst schwebte. Es war Alice, als verliefe ihr Leben nach einem ehernen Gesetz, auf das sie keinen Einfluss hatte.
Alice hätte bitter geweint, wenn nicht die Tränen vertrocknet wären.
*
Wasser!
Alice fiel auf die Knie und dankte Gott aus ganzem Herzen, dass sie nicht verdurstet war, dass auch Bernhard und Martin und Theresa noch lebten. Sogar Graf Raimond kniete wieder unter ihnen, der bei dem Marsch durch diese Hölle entlang der Salzwüste schon die Letzte Ölung empfangen hatte. Es war ein Zeichen Gottes, dass sie ausgerechnet an Mariä Himmelfahrt, genau am 15. August, dem Tage ihres Aufbruchs ins Heilige Land vor einem Jahr, Ikonion erreicht hatten und vom Verdursten errettet wurden. Tränen der Freude liefen Alice über die Wangen. Mit ihr knieten alle Pilger und priesen ihren Herrn Jesus Christus, der sie aus großer Not gerettet hatte.
Wer nicht den Fehler beging und zu viel Wasser in sich hineinsoff, sodass ihn nun zu guter Letzt noch der Tod ereilte, der genoss es, lebendig zu sein.
Zu ihrer Freude war Ikonion verlassen, sodass sie nicht erst einmal gegen die Türken kämpfen mussten, um zu den Bächen und Obstgärten zu gelangen, die sich weit im lieblichen Tal ausbreiteten.
Auf den Wiesen lagerten sie, an den Bächen ruhten sie. Alice traf auf Martin und Theresa, die unter dem Schatten eines Obstbaumes saßen und sich gegenseitig süßes Gebäck in den Mund schoben, das Martin bei einem armenischen Händler in einem der nahe gelegenen Dörfer gekauft hatte. Der Mann hatte ihn mit seinen sehnigen, hageren Armen gedrückt und dann das Zeichen des Kreuzes gemacht.
»Köstlich!«, rief Theresa ihr und Bernhard zu. »Möchtet ihr probieren?«
Theresa lachte und Martin mit ihr. Wann hatte Alice Martin jemals lachen gesehen? Alice und Bernhard dankten und steckten sich die honigsüßen Leckereien in den Mund. Alice fiel auf, dass die Freundin Bernhard wie nebenbei geduzt hatte, während sie ihn selbst nach wie vor mit ›Ihr‹ ansprach. Nun ja, Alice zuckte mit den Achseln. Selbst adelige Eheleute bewahrten in jedem noch so vertrauten Augenblick die Distanz des ›Ihr‹.
An den Grüppchen zusammenstehender oder im Gras sitzender und essender Menschen vorbei schlenderten sie weiter. Kinder und Erwachsene sangen, spielten Fangen, Verstecken und blinde Kuh, die Spiele langer Winterabende in Bauernhütten und auf Burgen.
Im Vorbeigehen hörten Alice und Bernhard dies und das. Sie gingen still und einander zugetan durch einen Torbogen in das Geflecht von Straßen und Gassen hinein. Bernhard hatte einen Raum gefunden, der noch teilweise eingerichtet war, weil die Möbel zu groß und schwer waren, um sie auf der Flucht in die Berge mitzuschleppen. Auf einem breiten Bett lagerte sich Alice und besah die schönen Deckenmalereien, während Bernhard sein Schachbrett holte, das er auf die Pilgerfahrt mitgenommen hatte.
Dennoch entging ihr nicht die tiefe Falte auf Bernhards Stirn, während er die Schachfiguren aufstellte. Sie mochte ihn aber nicht fragen, warum er ganz unerwartet so ernst und betroffen aussah.
Bernhard liebte Schach, seitdem ihm sein Großvater Hanno das Spiel nach dem tödlichen Unfall des älteren Bruders als Trost gegen die Trauer und die Verlorenheit geschenkt hatte. Überall auf der Burg der stille, unausgesprochene Vorwurf in den Augen der Mägde, der Knechte, der Knappen und Ritter seines Vaters, ja sogar bei den Bauern im Dorf, denen es getratscht wurde, überall die stumme Anklage, den eigenen Bruder beim Fangenspielen aus dem Burgfenster gestoßen zu haben. Der Priester ermahnte ihn, die Tat zu beichten. Der Vater schlug ihn bis aufs Blut mit der Reitgerte und seine Mutter, das war vielleicht das Schlimmste, setzte sich jeden Abend an sein Bett und erzählte die Geschichte, wie Kain seinen Bruder Abel aus Neid ermordete und Kain zur Strafe vertrieben wurde und als Fremder umherirren musste.
Nur Bernhards Großvater schenkte dem Jungen diese Kostbarkeit, das
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