Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
die außerordentliche Ehre hatte, die Heilige Lanze in die Schlacht zu tragen. Martin würde also auf Leben und Tod die Lanze beschützen und verteidigen, auch wenn er wie Bischof Adhémar an ihrer Echtheit zweifelte. Alice selbst war sich nicht sicher, ob sie an die Lanze glauben sollte, hatte sich aber zu der Auffassung entschlossen, es könne nicht schaden, die Lanze verleihe den Männern überhaupt erst den Mut, gegen diese vielfache Überzahl der Feinde anzukämpfen.
In diesem Augenblick ertönten die Hörner, es erschallten die Trompeten.
Das Brückentor wurde aufgetan.
Bewegung ging durch die Reihen der Männer.
Aus der Stadt heraus zum Fluss, die ersten Bogenschützen erreichten den Orontes, die Brücke.
Alice kratzte sich vor Aufregung am Arm. Hanno fing an zu weinen. Alice versuchte, ihn mit leisem Summen zu beruhigen. Der Kleine weinte lauter. Sie musste ihn stillen und eigentlich auch seine Windeln wechseln. Warum nur hatte sie es schon in der Nacht im Palast nicht mehr ausgehalten, als sie bemerkte, dass alle waffenfähigen Männer fort waren? Warum war sie fortgegangen, obwohl sie wusste, dass Bernhard gegen Morgen zurückkehren würde, um sich für den Kampf zu rüsten? Alice gestand es sich ein, sie hatte befürchtet, Bernhard werde nicht zu ihr kommen, um Abschied zu nehmen.
Es war, wie es war. Das Kind schrie. Alice entschloss sich, zum Palast zurückzulaufen, um das Kind von seinen Bändern, mit denen es von den Schultern bis zum Fuß umwickelt war, zu befreien, kurz die Glieder zu massieren und mit Öl einzureiben, es neu zu wickeln und zu stillen.
Es umfing Alice eine unheimliche Stille, als sie die Eingangshalle betrat. Niemand, aber auch wirklich niemand war zu sehen. In der Küche brannte noch das Feuer, ohne dass jemand Obacht gab. Auf einem Teller lag ein Stück Pferdefleisch, das süßlich nach Verwesung roch und auf das sich die Fliegen gesetzt hatten. Alice wurde übel. Sie hoffte, Bernhard habe nichts davon gegessen, es war das Letzte, was sie überhaupt an Nahrungsmitteln besaßen. Alice hielt sich ein Tuch vor die Nase und lief an Bernhards Schlafzimmer vorbei zu den Räumen der Frauen. Auch hier wirkte alles verlassen. Während sie auf ihrem Bett lagerte, horchte Alice angestrengt auf jedes Geräusch.
Hufe, Stampfen, Pferde, Pferde, so schön, so stark, so schnell, wie nur die Türken sie hatten. Pferde aus den weiten Steppen des Ostens, die heranrasten, Staubwolken aufwirbelten, donnernd. Kerbogha mit seiner unermesslichen Streitmacht ausgeruhter, kampferprobter Männer schlachtete jetzt, durch das verabredete Zeichen der Fahne herbeigerufen, jeden Mann ab, der die Brücke überquerte. Sie sah Bernhard, getroffen von einem Pfeil, der so scharf war, dass er die Rüstung durchbohrte. Gegen diese Übermacht gab es keine Rettung. Bernhard hatte ihr noch am Abend erzählt, Herzog Gottfried habe Peter dem Einsiedler nach seinem gescheiterten Besuch im Lager Kerboghas verboten, laut zu verkünden, wie stark das feindliche Heer sei.
›Wie viele sind es denn?‹, hatte Alice gefragt.
›Zwischen 80.000 und 100.000 Mann‹, hatte Bernhard geantwortet. ›Schwer zu schätzen.‹
›Und wie viele sind wir noch, was meint Ihr?‹
›30.000 vielleicht, Frauen und Kinder und nicht kämpfende Männer mitgerechnet.‹
Alice hatte genickt. Von den wohl 60.000 Menschen zu Beginn der Pilgerfahrt waren nur noch so wenige geblieben.
Alice schloss die Augen, um besser hören zu können, während der kleine Hanno wohlig an ihrer Brust lag und, wie es ihr schien, hingebungsvoll saugte. Ihr fiel ein, dass adelige Frauen immer eine Amme für ihr Kind hatten, doch selbst wenn sie eine Edelfrau gewesen wäre, hätte sie bei dieser Hungersnot ihr Kind selbst ernähren müssen.
Doch außer den Schritten und dem Hufgetrappel, den Trompeten und Trommeln ihrer eigenen Leute hörte Alice nichts. Wo blieb Kerbogha? Auch wenn sein Lager weiter entfernt bei den Bergen lag, so hätte er längst sein Heer sammeln müssen. Warum griff Kerbogha nicht an?
Der kleine Hanno war an ihrer Brust eingeschlafen. Alice stand auf, nahm das Kind, hetzte zur Befestigungsmauer zurück, vorbei an den wenigen Rittern und Bogenschützen des Grafen Raimond, die in der Stadt zurückgeblieben waren und nahe der Zitadelle Stellung bezogen hatten, um einen Ausfall der türkischen Garnison zu verhindern. Sie lief die Treppe hinauf und drängte sich zwischen Frauen und einigen Bogenschützen hindurch, um irgendwie etwas von der
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