Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie unter alle, je nachdem es einer nötig hatte‹, wie es in der Apostelgeschichte hieß.
Die Menge löste sich auf.
Alice und Bernhard standen noch eine Weile unschlüssig herum.
Da schritt die Bogenschützin auf Alice zu. Mit forscher Stimme stellte sie sich ihnen auf Französisch als Josephine vor.
»Ich habe aber viele Jahre als Joseph gelebt«, erklärte sie, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
»Seid Ihr Alice aus Passau?«
Als Alice nur mit einem kurzen, verwirrten »Ja« antwortete, fuhr die Bogenschützin fort:
»Herzog Gottfried hat mich angewiesen, in Eurem Zelt zu übernachten. Er meinte, es sei für eine Frau ohne familiäre Bindung schicklicher, als draußen beim Fußvolk zu schlafen, insbesondere, weil wir vier Tage vor Caesarea bleiben, um das Pfingstfest zu feiern.«
Bedauernd zuckte sie die Achseln.
»Ich für meinen Teil hätte bei der Wärme lieber draußen übernachtet als im stickigen Zelt. Vor männlichen Übergriffen habe ich sowieso keine Angst. Wenn sich jemand dagegen wehren kann, dann ich«, lachte sie und sah dabei Bernhard an.
Der verzog merklich angewidert das Gesicht und verließ die beiden Frauen.
Alice jedoch war neugierig. Gewiss, es kam bisweilen vor, dass Eltern auf Reisen ihre Tochter als Sohn verkleideten. Aber eine Frau mit den Waffen eines Mannes in Männerkleidung …
Alice hatte sich zu gedulden, denn zuvor musste noch eine Messe besucht und der kleine Hanno versorgt und schlafen gelegt werden.
Erst dann setzten sich die beiden Frauen ins Gras, unweit des Zeltes, damit Alice das Weinen ihres Kindes hören könnte. Es war ein warmer Abend, die Menschen waren fröhlich, Pfingsten im Heiligen Land und – sie noch lebendig. Umgeben von Stimmen, bunten Zelten, Feuern und dem Duft von Gebratenem, saßen die beiden Frauen nebeneinander, die Hände um die Knie geschlungen. Bisweilen tranken sie aus ihrer Lederflasche einen Schluck Wein.
»Ihr wollt also wissen, wie ich dazu kam, wie ein Mann zu leben.«
Ohne Alice’ zustimmende Antwort abzuwarten, begann die Bogenschützin ihre Erzählung.
»Das kam so: Mein Großvater ist als Bogenschütze mit dem Heer Wilhelm des Eroberers nach England gekommen. Mein Vater war ebenfalls Bogenschütze, und zwar bei Wilhelms Sohn König Wilhelm II. Nun wollte mein Vater, dass auch sein Sohn Bogenschütze würde. Meine Mutter hatte viele Geburten und es waren auch Söhne dabei, die Kinder wurden jedoch alle tot geboren. Mein Vater war außer sich, keinen Sohn zu besitzen, und hat meiner Mutter deswegen häufig heftige Vorwürfe gemacht und sie geschlagen. Als sie ihm keinen Sohn schenkte und er bemerkte, dass ich immer um seine Bögen und Pfeile herumschlich, und er mich dabei ertappte, dass ich versuchte zu schießen, wurde er sehr zornig. Dann aber prüfte er mich, ob ich begabt zum Bogenschießen sei.
›Komm nach draußen, lass sehen, was du kannst und wer du bist‹, forderte er mich auf.
Von dem Tage an lehrte er mich die Kunst eines Bogenschützen.
›Du schießt wie ein Junge‹ war das größte Lob, das ich mir vorstellen konnte.
Ich war glücklich. Ich bemerkte nicht oder wollte es nicht wahrhaben, dass meine Mutter immer bedrückter wurde, ja, dass mein Vater meine Mutter beschimpfte, wenn sie wieder einmal eine Totgeburt hatte, und das geschah jedes Jahr. Ich aber bewunderte ihn und lauschte seinen Schilderungen von der Pracht Konstantinopels, dieser Stadt der Städte, im Vergleich zu der London nichts als ein stinkender Misthaufen sei. Er sagte wieder und wieder, Zweidrittel der Reichtümer dieser Welt befänden sich in Konstantinopel.
Eines Tages war er fort. Er hatte alles Geld mitgenommen und stürzte meine Mutter in Armut. Denn er hatte sogar vorher noch Schulden gemacht, sodass die Gläubiger ihre Forderungen an meine Mutter stellten und die arme Frau nicht einmal wusste, ob der Schneider und Schuhmacher und Schmied überhaupt die Wahrheit sprachen. Meiner Mutter gelang es nach vielen Bittgängen, eine Stellung als Küchenmagd am königlichen Hof zu erhalten.
Für mich aber war das Entsetzen über das Verschwinden meines Vaters noch größer als für meine Mutter. Sie hatte ihn erlitten, ich hatte ihn bewundert und geliebt. Unausgesprochen gab ich ihr die Schuld dafür, dass er uns verlassen hatte.
Wenn sie ihm nur einen Sohn geboren hätte, der am Leben geblieben wäre, wenn sie
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