Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Ägypten abzuschwenken, das ägyptische Heer anzugreifen und erst, wenn dieses geschlagen worden sei, nach Jerusalem zu pilgern, um es zu erobern. So kurz vor Jerusalem, nur eine, höchstens zwei Tagesreisen entfernt, das ersehnte Ziel aufzugeben, für das man alles geopfert hatte, das war Schikane, das war Wahnsinn, das war Gotteslästerung!
Die anderen Heerführer hatten diesem Plan nicht zugestimmt, Gott sei Ehr’ und Preis.
Doch Alice fühlte es mehr, als dass sie es dachte, so ein Marsch nach Ägypten hätte ihr Aufschub gegeben, hätte ihr Bernhard länger erhalten. Nein, im Gegenteil, ein Angriff auf das ägyptische Heer hätte ihn ihr für immer genommen. Die wenigen, die von den Tausenden von Rittern und Fußsoldaten noch am Leben waren, wären alle umgekommen. Keiner der Männer hätte den Kampf überlebt. Für sie, Alice, hätte es Sklaverei bedeutet. Als Sklavin hätte sie jedenfalls nie wieder darüber nachdenken müssen, was sie nach Jerusalem mit ihrem Leben beginnen sollte.
Welch schändlicher Unsinn! Alice biss sich auf die Lippen. Wie konnte sie nur einen Augenblick so etwas in Erwägung ziehen, wie so etwas Teuflisches wünschen! Wie schlecht musste es ihr gehen, wie ausweglos ihre Zukunft sein, dass ihr solch ein Gedanke überhaupt kommen konnte.
Hinter sich hörte sie Pferdegetrappel. Es war Martin, der auf Rab saß, zu ihr heranritt, ihr einen guten Morgen wünschte und im leichten Galopp weiter nach vorne zu den anderen Rittern strebte.
Auf Rab! Auf ihrem Rab!
Alice stieg die Galle hoch.
Zu Beginn der Pilgerfahrt war er der Knecht und sie die Herrin. Und nun?
Hatte er nicht unaufhaltsam gewonnen, seitdem er das Kreuz genommen hatte? Wie von Zauberhand war er mit Ehren und Gütern gesegnet worden. Angefangen mit den Kleidern, die der Abt ihm in Alice’ Elternhaus geschenkt hatte, ausgestattet mit Geld vom Kloster, mit dem er nach seinem Krankenaufenthalt dort versehen worden war, erhöht durch das großzügige Geschenk des Schwertes, das einem Grafen gebührt hätte. Sein Geld aber brauchte Martin gar nicht anzurühren, jedenfalls nicht, solange er noch in Bischof Adhémars Diensten stand. Alice war fest überzeugt, dass Martin noch immer mehr Geld zur Verfügung stand als Bernhard. Denn es war ganz klar, die Schätze, die er aus Edessa mitgebracht hatte, waren so wertvoll nun auch wieder nicht, dass man bei diesen überhöhten Preisen längere Zeit davon hätte leben, geschweige denn eine Schiffspassage nach Italien bezahlen oder gar eine Burg hätte auslösen können. Vor nichts aber graute Bernhard so sehr als vor dem Augenblick, wenn er das Geld, sein allerletztes Geld, ausgegeben hätte.
Missgünstig sah sie Martin nach. Er hatte es weitaus besser als Bernhard, der eigentlich nichts besaß als seine Kampffähigkeit. Martin konnte sich bei einem Herrn als Ritter verdingen, er konnte Sekretär bei einem Herzog, möglicherweise sogar bei Kaiser Heinrich werden, er könnte hoch hinaufsteigen. – Bernhards Lehen jedoch war weitgehend an das Kloster verpfändet. Was wäre, wenn er es nicht auslösen könnte? Würde gar das Kloster mit Bernhards Ländereien belehnt? Es überkam Alice heftige Reue, dass sie ihn so hart angeklagt hatte, er liebe sie nicht, während er sich zu Recht Sorgen um seine Grafschaft machte.
Wer aber war Herr des Klosters, wer hatte Bernhard geschröpft? Der Abt! Und wer war der Abt? Mit einem Mal wurde ihr klar, was ihr seit Monaten hätte bewusst sein können, ja bewusst sein müssen.
Der Abt war Martins Vater!
Alice fühlte sich verletzt, hintergangen und betrogen. Sie wusste nicht genau, worin der Betrug lag. Fest stand, der Abt war der große Gewinner, er triumphierte über ihren Vater, über Bernhard. Das war seine späte Rache. Wie sie ihn verabscheute!
Zugleich war sie dem Weinen nahe. Der Junge drückte schwer auf ihrem Rücken, er war aufgewacht und fing an zu quengeln. Sie hatte Durst, das Kind musste gestillt werden. Hanno Wasser zu geben, getraute sie sich nicht. Nichts war unsicherer, gefährlicher als Wasser, von dem man nie so genau wusste, ob es verdorben war, auch wenn es noch nicht faulig roch. Trotzdem, sie brauchte dringend Wasser. In ihrer Enttäuschung und ihrem Zorn auf Bernhard hatte sie zu wenig Wasser in ihre Flasche gefüllt, jetzt aber lechzte sie danach fast so wie die Pferde. Wenn die Heerführer nur endlich Halt machen würden. Aber Alice sah es selbst, hier am Rande des Gebirges, hier, wo der Aufstieg nach Jerusalem begann,
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