Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
ihn ausbreitete, sich zusammenzog und sich an seiner rechten Seite niederließ. Es war der Duft von Lilien.
Es war ihm, als nähme der Duft eine Gestalt an.
Eine Frauengestalt, eine Frau in einem weißen Kleid, das in der Taille durch eine goldene Kordel zusammengefasst war. Eine Frau mit langem, lockigem, rötlich braunem Haar.
Theresa, engelsgleich.
Er spürte die Schönheit der gewandelten Gestalt.
Martin wagte nicht, neben sich zu blicken, er befürchtete, er könnte sich täuschen.
Doch sie sprach zu ihm:
»Ich bin wie die Lilien auf dem Felde. Ich bin geschnitten, aber nicht ins Feuer geworfen.
Dich zu trösten, bin ich gekommen.
Als sie mich auf die Mauer stießen, um mich vor dem gesamten christlichen Heer zu töten, da habe ich nur dich gesehen. Du warst auf die Knie gefallen und ich wusste, du batest Gott um ein Wunder.
Aber das Wunder geschah nicht.
Auch ich habe auf ein Wunder gehofft. Auch ich habe Gott um ein Wunder angefleht, als sie mich entführten, als sie mich in die Kirche des Heiligen Petrus brachten und mich vor dem Angesicht der Mutter Gottes, der sie die Augen ausgestoßen hatten, misshandelten.
Nicht nur die vier Männer, die mich gefangen genommen hatten, vergingen sich an mir, sondern immer mehr, immer andere schlenderten in die Kirche, grinsend, mich verhöhnend, dich verhöhnend, alle christlichen Männer verhöhnend, die mich nicht beschützt hatten und mich nun nicht befreien konnten.
Der Schmerz war unerträglich.
Ich wusste, unser Kind war längst tot.
Ich wünschte, ich würde das Bewusstsein verlieren. Aber ich blieb bei Sinnen.
Irgendwann in der Nacht geschah es, dass sich meine Seele von meinem Körper trennte.
Es war, als ob sich die Seele vom Körper frei gemacht hätte und nun weit oben von der Mutter Maria aufgehoben und geborgen sei. Es war mir, als wiegte sie mich in ihrem Arm wie ihren Sohn, als er geboren war, als sie ihn in Windeln gewickelt hatte und in eine Krippe legte. Und auch, wie sie ihn in den Armen gehalten haben mochte, als er vom Kreuz genommen war. Mein Leib wurde geschändet, meine Seele konnte nicht mehr geschändet werden, meine Seele war frei.
Als dann der Morgen graute und sie mich aus der Kirche stießen, um mich zu ermorden, als ich die Treppen zur Befestigungsmauer von Antiochia hinaufsteigen musste, die Hände gefesselt, obwohl ich wahrhaftig nicht fliehen konnte, da war meine Seele schon weit von meinem Körper entfernt. Sie konnten nur noch meine irdische Hülle töten, nicht mich selbst.
Doch dann sah ich dich knien. Ich hörte dein Gebet. Das war wie das Blut Christi im Garten von Gethsemane. Du aber, das wusste ich, würdest nicht wie Jesus in seiner letzten Nacht beten: ›Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.‹ Du würdest dich nicht Gottes Ratschluss fügen. Wenn ich geköpft würde, und nichts konnte noch meine Hinrichtung abwenden, dann würdest du dich von deinen Knien erheben und Gott anklagen.
Martin, seitdem sie meinem Leben mit dir, unserem gemeinsamen Leben, ein Ende bereitet haben, bin ich um dich, Tag und Nacht. Ich kenne deine Gefühle, deine Gedanken.
Deine Wut, dein Zorn gegen Gott hat sich gewandelt. Du glaubst, du seist von Gott verflucht, von der Zeugung an, von Geburt an, verflucht!
Aber Jesus sagt: ›Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelsreich.‹
Jesus fragt nicht zuvor: Wer sind deine Eltern? Haben sie gesündigt?
Er sondert sie nicht aus: Dieses Kind darf zu mir kommen, das andere nicht.
Jesus liebt die Kinder, er ehrt jedes Kind.«
Es war Martin, als fühlte er den Hauch ihrer Lippen. Dann blickte sie wieder zur Mutter Gottes.
»Was mich immer störte, als ich noch lebte, war, wie hart Jesus mit seiner Mutter sprach: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?‹ Jetzt weiß ich, seitdem ich dich leiden sehe, nichts haben wir mit unseren Eltern zu schaffen. Die Sünde der Eltern überträgt sich nicht als Schuld, als Fluch auf die Kinder.
Glaube mir, auf dir liegt nicht der Fluch, dass, wen du liebst, stirbt. Der Tod Bischof Adhémars, Anselm von Ribemonts, mein Tod haben nichts mit dir zu tun. Da gibt es keinen Zusammenhang.«
Martin durchschauerte es, als die Lichtgestalt seine Hand nahm. Er fürchtete sich. Mühsam presste er die Worte hervor:
»Und warum du? Warum ausgerechnet du?«
»Das bleibt uns verborgen«, antwortete die Fremde, die doch seine Frau war.
Martin sah hilflos und traurig vor sich hin auf den
Weitere Kostenlose Bücher