Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
ganzen Tag, ohne Unterbrechung, ohne Halt zu machen«, erzählte sie. »Wir müssen nach Jerusalem, ganz schnell, sonst gibt es ein Unglück.«
Bernhard hob erstaunt die Brauen.
»Habt Ihr gestern in der Nacht die Mondfinsternis gesehen? Natürlich habt Ihr. Es war ja nicht vollständig dunkel, der Himmel war blutrot. Wir hatten Angst, sogar die Fürsten und Geistlichen. Wir fürchteten uns, dass es unser aller Blut sei, das vergossen würde, dass die Erde von unserem Blut so getränkt würde wie der Himmel rot glühte. Die Priester deuteten den grausig anzuschauenden Himmel als Drohung, weil wir so viel Zeit für unsere bösen, selbstsüchtigen Absichten und Sünden verbraucht hätten.«
Alice ergriff mit einer flehenden Gebärde seine Hand.
»Wenn wir Jerusalem erobern wollen, dann dürfen wir beide nicht mehr sündigen. Wir müssen alle Buße tun.«
Bernhard schüttelte abwehrend den Kopf und schwieg auf seine abweisende Art.
Dass Bernhard trotz ihres tugendsamen Vorsatzes ihre Hand nicht losließ, machte sie allerdings zuversichtlich. Sie liebte ihn sehr.
Mit einem Mal erhob sich ein unbändiger Lärm, ein lautes Rufen und Schreien, übertönt vom Schall der Hörner und Trompeten.
»Jerusalem!«, schrien diejenigen Pilger, die ganz vorne in den ersten Reihen liefen.
»Jerusalem!«
Eine ungeheure Bewegung erfasste das Heer, jeder, ob alt oder jung, ob Mann oder Frau, Kind oder Greis, Ritter oder Armer, selbst die Gräfin Elvira von Toulouse, jeder stürmte den Hügel hinan, von dessen Höhe aus Jerusalem, die Heilige Stadt, sich gewaltig, schön und prächtig mit ihren Kuppeln, Türmen, Palästen, Kirchen, Moscheen und ihrer gewaltigen Befestigungsmauer vor aller Blicke ausbreitete.
Bernhard hob seinen Sohn hoch empor und rief begeistert:
»Schau, Hanno! Jerusalem!
Jerusalem, die Heiligste aller Städte. Und mittendrin die Grabeskirche, das Heiligste des Heiligen! Wir sind da!«
Nach Jahren des Leidens, des Wanderns, des Hungerns, des Durstens, der Krankheiten, der Verwundungen und des Sterbens hatten sie endlich das Ziel ihrer liebenden Hingabe an Jesus Christus erreicht.
Weinend und lachend fielen sie sich um den Hals, sanken auf die Knie, küssten die Erde, sangen Hymnen und dankten Gott.
Die Befreiung des sanctum sanctorum konnte beginnen.
An diesem späten Nachmittag des 7. Juni 1099 ahnten die jüdischen und muslimischen Einwohner Jerusalems, die in der Hitze auf Straßen und Plätzen oder in der Kühle der Häuser
ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen, sie ahnten es keinesfalls, dass sehr viele von ihnen nur noch 39 Tage zu leben hätten.
Die Stadt an den Flüssen – eine Fata Morgana, 7. Juni 1099
Angst beschlich Alice, als sie zusammen mit der Bogenschützin und ihrer Kinderfrau das Zelt zwischen dem Viereckigen Turm und dem St. Stephanstor im Nordwesten der Stadt aufschlug. Der Jubel, die Begeisterung, die Freude waren in der kurzen Zeit von ihr gewichen, so weit, dass sie einer fernen Vergangenheit anzugehören schienen. Als der alle überwältigende Begeisterungssturm verflogen war und die Kreuzfahrer nicht mehr dem Sehnsuchtsbild Jerusalem nachjagten, sondern von dem befestigten feindlichen Koloss schier erdrückt wurden, der unter einem gleißend blauen Himmel vor ihnen aufragte, da waren die Frauen, Kinder und Männer entmutigt den steinigen Weg vom Mont de Joie, vom Berg der Freude, ins tiefe Tal hinuntergegangen, da war die Hoffnung, Jerusalem zu erobern, in sich zusammengesackt. Von unwegsamen Schluchten umgeben, thronte Jerusalem wie eine Königin auf einem Plateau, jedoch von so gewaltigen quaderförmigen hohen Mauern bewacht, dass jeder, der sich diesen Befestigungen näherte, mit tödlicher Treffsicherheit abgeschossen werden konnte. Die großen Tore waren von Türmen flankiert, sie wirkten verschlossen, als könnten sie sich dem himmlischen Jerusalem niemals öffnen.
Alice schwitzte, als sie zum Tross ging, um ihr Gepäck abzuladen, und noch mehr, als sie ihr Steckbett und ihre Kissen zurückschleppte.
Bloß nicht zu Jerusalem hinübersehen, irgendwie kommen wir schon hinein, hoffte sie, während sie sich ihren Weg durch die Menge zankender und entmutigter Menschen bahnte. Jeder war mit bangen Fragen beschäftigt. Noch nie hatten sie eine so stark befestigte Stadt wie Jerusalem durch Sturmangriff oder Belagerung erobert. Nikäa und Antiochia waren durch List und Verrat in ihre Hände gefallen. Aber in Jerusalem gab es keine Christen mehr, die heimlich die
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